*RH-92.6* Re: TELEPOLIS: Radio Tilos wieder auf Sendung
zille frau
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Sun Feb 15 12:08:40 CET 2004
----- Original Message -----
From: club_voltaire at web.de
Date: Sun, 15 Feb 2004 00:44:08 +0100
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Subject: TELEPOLIS: Radio Tilos wieder auf Sendung
> Dieser TELEPOLIS Artikel wurde Ihnen
> von <club_voltaire at web.de> gesandt.
>
> ----------------------------------------------------------------------
> Radio Tilos wieder auf Sendung
>
> Stefan Tenner 15.02.2004
>
> Gegen das bekannteste Freie Radio Ungarns war im Januar die bisher
> strengste Strafe gegen ein ungarisches Medium verhängt worden. Über
> Antisemitismus, Redefreiheit und die Rechten in Ungarn heute und
> gestern
>
> Der Name "tilos" bedeutet auf ungarisch "verboten" und macht dem
> kritischen Sender seit seiner Gründung immer wieder gezwungenermaßen
> alle Ehre. Die 1991 als Piratenradio ins Leben gerufene alternative
> Musik- und Kulturstation wurde in den 90er Jahre schnell über die
> Grenzen Budapest hinaus populär. Erst 1995 wurde Tilos [1] eine legale
> Frequenz zugeteilt, die jedoch nach vier Jahren unverlängert auslief.
> Mehrere Anträge auf eine neue Frequenz blieben erfolglos. Erst im
> Oktober 2002 ging man wieder als nichtkommerzielles Freies Radio auf
> Sendung. Doch nun im Januar 2004 herrschte wieder Funkstille.
>
> Der Hitlergruß, die rotweißen Flaggen der ungarischen Rechtsextremen.
> Gelbe Kreuze an der Kleidung, in Anspielung auf den Judenstern.
> Antisemitische Parolen und Reden, die die jüdischen Gemeinden Ungarns
> zu einer Anzeige nötigten. Schließlich die Verbrennung der israelischen
> Flagge, dem ein Protest der israelischen Botschaft folgte. So
> präsentierte sich Ungarns Hauptstadt gleich zu Beginn des
> EU-Beitrittsjahres. Am 11. Januar 2004 hatten rechtsextreme und
> konservative Gruppen zu einer Demonstration aufgerufen, der sich 4.000
> Anhänger angeschlossen hatten und die am Gebäude des Tilos Radios mit
> jener Kundgebung eskalierte. Und dieser Ort war nicht zufällig gewählt
> worden.
>
> "Ich würde alle Christen ausrotten"
>
> Mehr als einem Monat zuvor hatte die Geschichte ihren Lauf genommen,
> als Anfang Dezember die Jüdische Gemeinschaft große Kerzen zu Ehren des
> Chanukka-Festes an zentralen Orten in Budapest aufstellte. Diese
> jährliche Tradition wurde dieses Mal jedoch durch rechte Kreise für
> eine landesweite Provokation benutzt. Die jüngst aus einer
> konservativen studentischen Bewegung hervorgegangene nationalistische
> Rechtspartei "Jobbik" (Bewegung für ein besseres Ungarn) stellte im
> ganzen Land riesige Holzkreuze auf und löste damit eine von vielen
> Medien begleitete kontroverse Debatte aus. Kritische oder überspitzte
> Äußerungen kamen dabei auch von Radio Tilos, welches dem Treiben nicht
> unkommentiert zusah. So registrierte die Medienaufsichtsbehörde ORTT am
> 9. Dezember:
>
> Die Moderatoren äußerten sich in abwertender Weise über christliche
> Symbole. Die Aufforderung, auf Kreuzen weltliche oder sogar vulgäre
> Nachrichten zu verewigen, und die Idee, Kreuze zu verbrennen, sind eine
> potenzielle Beleidigung für Christen.
>
> Wenig später stellte die Behörde fest, dass der Sender am 19. Dezember
> den so genannten Nicht-Diskriminierungsparagraphen des Rundfunkgesetzes
> übertreten habe, weil Moderatoren zu einem Teil des Evangeliums Wörter
> hinzugefügt hatten, die nicht in der Bibel stehen würden. Jesus
> Christus sei zudem ein "Bastard" genannt worden. Der zitierte Paragraph
> war einst für den Schutz von Minderheiten wie Juden oder Romas
> geschaffen worden, wurde nun aber auf die Mehrheit der in Ungarn
> lebenden Katholiken angewandt. Der Höhepunkt der Geschichte folgte dann
> ausgerechnet am Heiligabend, als ein Moderator von sich gab, dass er
> "alle Christen ausrotten würde".
>
> Der Sender distanzierte sich sofort von den Aussagen und entschuldigte
> sich öffentlich. Dem betrunkenen Moderator wurde Mikrofonverbot
> erteilt. Die bereits am 12. Dezember von der Zeitschrift "Magyar
> Nemzet" (Eigentümer ist die national-konservative Oppositionspartei
> Fidesz) gestartete Hetzkampagne gegen den Sender ging nun erst richtig
> los. Schließlich forderten Parteien und Gruppen sämtlicher
> konservativer und rechter Couleur die Bestrafung oder gar das
> vollständige Verbot für Tilos. Das Medienaufsichtsgremium ORTT, welches
> laut Mediengesetz aus fünf Abgeordneten der im Parlament vertretenen
> Parteien zusammengesetzt ist, stand demnach unter erheblichem
> politischen Druck. Die Nachricht über die eskalierte Kundgebung am 11.
> Januar setzte dann das endgültige medienwirksame Zeichen.
>
> David Kovacs, der 27-jährige Parteichef der Jobbik-Partei, die die
> Demonstration vom 11. Januar organisiert hatte, bezeichnete die
> Äußerung am Heiligabend keinesfalls als Ausrutscher. "Vor einem Jahr
> bezeichnete ein anderer Mitarbeiter des Senders die Heilige Krone
> Ungarns als 'ein Stück Scheiße'. Man sollte weder die Ideale der
> Mehrheit, noch die einer Minderheit verletzen dürfen.", so Kovacs.
>
> Wir sollten gegen die Minderheit der Ungarn- und Christenhasser keine
> Toleranz zeigen, wenn wir nicht wollen, dass unsere Kinder als Nazis
> abgestempelt in Reservaten leben werden.
>
> So äußerte sich der konservative Publizist István Lovas, zur
> Diskussion. Auch die brennende Israel-Flagge weckte bei einigen
> Politikern das Gespür, die Geschichte noch weiter symbolisieren zu
> können. Janos Ader, Fraktionschef der Fidesz-Partei fiel in diesem
> Zusammenhang ausgerechnet der Brand des Berliner Reichstages 1933 ein,
> der "ja auch nicht von jenen angezündet worden war, die vor Gericht
> gestellt wurden. Es ist klar, dass einige Leute beauftragt wurden, die
> Fahne zu verbrennen", so seine Vermutung. Entrüstung über diese Aussage
> kam prompt von Ildiko Lendvai, dem Fraktionsvorsitzenden der
> regierenden MSZP-Partei der Sozialisten:
>
> Fidesz versucht verzweifelt die Verantwortung dafür von sich zu
> weisen, dass Extremisten in den von ihm ins Leben gerufenen
> bürgerlichen Kreisen den Geist des religiösen und politischen Hasses,
> des Antisemitismus und der Ausgrenzung aus der Flasche ließen.
>
> Die Strafe
>
> Die Religionsdebatte ging in eine Antisemitismus- und eine alte
> Rechts-Linksdebatte über und stilisierte die Aussage des Moderators
> weiter hoch. Wenige Tage später, am 22. Januar 2004, erhielt Radio
> Tilos 30 Tage Sendeverbot, eine sechsmonatige Sperre der staatlichen
> Unterstützung und die Androhung, bei Wiederholung solcherlei Aussagen,
> die Lizenz ganz zu verlieren. Für das Verbot stimmten neben dem
> Vorsitzenden der Medienbehörde ORTT auch der Vertreter der regierenden
> Partei MSZP und der der Oppositionspartei MDF. Die mitregierende SZDSZ
> war dagegen, die oppositionelle Fidesz-Partei enthielt sich, forderte
> wie die MDF aber die komplette Einstellung des Senders.
>
> Bei Radio Tilos reagierte man enttäuscht über die Unverhältnismäßigkeit
> der Strafe. In einer Stellungnahme [2], stellte Radio Tilos die Frage
> nach der Zukunft des öffentlichen Rundfunks in Ungarn:
>
> Es folgt der Natur von Radio Tilos und der Natur aller öffentlicher
> Radiostationen, dass die Kontrolle über den Programminhalt wenig
> wirksam ist. Die Programmmacher arbeiten freiwillig mit und es wird
> überwiegend nicht-professionellen Journalisten die Möglichkeit gegeben,
> auf Sendung zu sein. Deshalb stellt die Entscheidung der ORTT,
> Sanktionen zu verhängen und eine letzte Verwarnung auszusprechen, die
> Frage nach dem Modell des öffentlichen Rundfunks, wenn so die
> Artikulation von provokativen Gedanken und hitzigen Argumenten
> verhindert wird, um die Interessen der Gesellschaft zu schützen.
>
> Man wolle, trotz der zu bedauernden Aussagen, nicht die Redefreiheit
> opfern, den "großen Mund" eines Radios, so Tilos in ihrer Stellungnahme
> weiter. Dies sei neben anderen Dingen das wichtigste Prinzip des
> öffentlichen Rundfunks. In Ungarn würden Tausende Leute diese Werte als
> so wertvoll ansehen, da sie ohne Bezahlung arbeiten würden.
> Zehntausende unterstützen solche Radiosender materiell. Vor drei Jahren
> drückten allein 27.000 Leute gegenüber der ORTT den Willen aus, Radio
> Tilos zuzulassen. In einem Radiointerview [3] befürchtete Eva Primus
> von Radio Tilos, dass mit der Entscheidung die Behörde nun auch gegen
> andere ungarische Medien vorgegangen werden könne. Deshalb werde man
> die Entscheidung als Ganzes anfechten und eine Gegenklage einreichen.
>
> Rechte und Konservative
>
> Der Erfolg der Rechten gegen den kleinen Sender stellte gleichzeitig
> ein Alarmzeichen für Ungarn dar. Seit der Einführung der
> parlamentarischen Demokratie 1989 gab es in Ungarn bisher alle vier
> Jahre einen Regierungswechsel. Mitte-Rechts folgte Mitte-Links und
> wieder zurück. 1998 war die - in Deutschland von höchsten CSU-Kreisen
> hofierte [4] - nationalkonservative Fidesz-Partei unter Viktor Orban
> als stärkste Partei hervorgegangen und stellte mit den Kleinlandwirten
> und Christdemokraten die Regierung. Damals rückte auch die
> rechtsextreme und offen antisemitische Partei MIEP (Partei für
> Ungarische Gerechtigkeit und Leben) unter Istvan Csurka ins Parlament
> ein, mit der die Regierungspartei inoffiziell immer wieder kooperierte.
>
> Der ständige Wechsel der Regierung und die Verhärtung zwischen den
> beiden Blöcken hatten viele negative Auswirkungen auf die
> Unabhängigkeit der Medien, die Umwandlung des staatlichen Rundfunks zum
> öffentlich-rechtlichen und die Etablierung eines dualen
> Rundfunksystems. Der Kampf um Einfluss auf die Medien zeigte sich seit
> den Wahlen 1990 und gipfelte in einem jahrelangen Streit über die
> Verabschiedung eines Mediengesetzes, das erst 1995 seine Zustimmung
> erhielt. Erst dann wurden Privatsender gegründet, denen die
> öffentlich-rechtlichen Sender aber inzwischen fast machtlos gegenüber
> stehen.
>
> Mit dem Regierungswechsel 1998 blieben wegen der Uneinigkeit zwischen
> der rechtsextremen und der Mitte-Links-Opposition die Aufsichtsgremien
> mehrerer staatlicher bzw. öffentlich-rechtlicher Medienhäuser ohne
> Oppositionsvertreter und leisteten damit eine einseitige
> Medienkontrolle. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde so stark
> vernachlässigt, dass deren Situation als nicht haltbar anzusehen sei,
> so die Feststellung der Internationalen Journalistenvereinigung IJF im
> Jahr 2001. Auch eine direkte Beeinflussung der Medien von ganz rechts
> war festzustellen. Die rechtsradikale MIEP-Partei wurde am Pannon-Radio
> beteiligt und konnte auch im öffentlich-rechtlichen Kossuth-Radio ihre
> antisemitischen und nationalistischen Parolen verbreiten.
>
> Nach Recherchen der Publizistin Magdalena Marsovszky über
> Antisemitismus in Ungarn [5] waren "nicht nur" Juden das Ziel dieser
> Rechtsradikalen, sondern auch Sozialisten und liberale Elemente bzw.
> die "Entartung" des so genannten "Internationalen Menschen", wie es
> Rechtsextremist Istvan Csurka bezeichnete. Dabei speise sich der
> ungarische Nationalismus vor allem aus der permanenten Unterdrückung
> durch die Osmanen, das Habsburgerreich und die Sowjetunion. Hinzukomme
> der bevorstehende EU-Beitritt Ungarns. Und so konstatiert Marsovszky
> über ein Ungarn, welches bisher kaum Zeit hatte, sich als Nation zu
> finden:
>
> Dahinter verbirgt sich die - durchaus verständliche - ungarische
> Neurose, die aus der Lage eines Landes resultiert, das auf der
> "Verliererseite der Geschichte" noch immer mit dem Fiebertraum des
> Verschwindens seiner nationalen Existenz kämpft.
>
> In der Regierungszeit unter Viktor Orban, gab es dabei zahlreiche
> Anzeichen für rechtsradikales Gedankengut in der Regierungspartei.
> Mehrmals wurde von Regierungsmitgliedern der Holocaust relativiert, es
> wurde versucht, umstrittene historische Persönlichkeiten zu
> rehabilitieren und die Zusammengehörigkeit der in den angrenzenden
> Ländern lebenden Ungarn (drei bis vier Millionen) zu betonen. Im
> Frühjahr 2002, mit dem überraschenden Wahlsieg der Sozialisten, änderte
> sich die parlamentarische Zusammensetzung erheblich. Die
> National-Konservativen wurden zur Opposition, die Rechtsradikalen
> scheiterten an der 5 %-Hürde. Ein Bündnis aus Sozialisten und
> Sozial-Demokraten unter Ministerpräsident Peter Medgyessy regiert
> seitdem das Land.
>
> Happy End?
>
> Mit der Bestrafung von Radio Tilos haben nun Rechtskatholiken,
> Konservative und Rechtsradikale gezeigt, wie stark sie auch in der
> inner- und außerparlamentarischen Opposition sind. Radio Tilos, das
> nicht einmal überall in Budapest zu empfangen ist, erhielt aber
> trotzdem landesweit Unterstützung. Andere Medien bekundeten diese
> zumindest durch eine faire Berichterstattung: "Die herausgegeben
> Pressemitteilungen wurden ziemlich korrekt zitiert", so Eva Primus von
> Radio Tilos. Für die an der Regierung beteiligte Partei SZDSZ war die
> Bestrafung zu hart und man kündigte an, sich an den Europarat in
> Straßburg zu wenden.
>
> Doch es kam nicht soweit. Nach mehr als einer Woche war die Gegenklage
> erfolgreich und die Strafe wurde wieder aufgehoben. Radio Tilos ist
> damit wieder "On Air" und will es auch noch lange bleiben: Als offene,
> alternative, unbequeme und nicht immer politisch korrekte Stimme im
> heutigen Ungarn. Der konservative und zudem rechtsoffene
> Schulterschluss in der Opposition lässt künftig weitere Aktionen gegen
> den Sender und andere unbequeme Stimmen vermuten. Man hofft deshalb bei
> Radio Tilos auch weiterhin auf jegliche Unterstützung, die der Freiheit
> des Wortes gewidmet ist. Noch immer ist das in Ungarn, aber auch in
> anderen EU-Staaten ein streng und zudem staatlich kontrolliertes
> Menschenrecht. Vor allem nichtkommerzielle Hörfunkinitiativen bekommen
> das immer wieder zu spüren.
>
> Links
>
> [1] http://www.tilos.hu
> [2] http://tilos.hu/extra/statement_040121.html
> [3] http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=5973
> [4] http://www.budapester.hu/artikel.php?artikelid=1673
> [5] http://antisemitismus.juden-in-europa.de/osteuropa/ungarn.htm
>
> Telepolis Artikel-URL:
> http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/16740/1.html
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