+comunity+ über zäune...
Martin Schitter
ms at mur.at
Di Jun 14 17:58:48 CEST 2016
lieber johannes!
ganz lieben dank für deinen ermunternden widerspruch! :)
ich kann ohnehin nur zu gut verstehen, wenn sehr viele hier diese ganze
geschichte völlig uninteressant und lächerlich finden, aber es tut
trotzdem gut, zu spüren, das diese hiesige home-base einigermaßen
gleichgesinnter, offenbar doch noch in ansätzen extiert. dass man also
noch immer auf sachkundige reaktionen rechnen kann, wenn einem die
einsamen abenteuer draußen in der virtuellen welt einmal nicht genügen
und man nach rat und solidarität im näheren umfeld ausschau hält.
On 2016-06-14 10:13, IOhannes m zmölnig wrote:
> On 2016-06-13 01:13, Martin Schitter wrote:
>> paul davis, der autor von "ardour" (https://ardour.org) und langjähriges
>> zentralgestirn der linux audio bemühungen, hat sich vor zwei jahren zu
>> ähnlich radikalen schritten entschlossen. er hat damals sogar den zugang
>> zu binaries seines GPL lizensierten programms kostenpflichtig gemacht.
>
> ich hake hier ein, weil ich deine formulierung so lese, dass paul davis
> zusätzlich zum kostenpflichtigen download von kompilaten auch weitere
> einschränkungen (zugang zu den sourcen? "lizenz" zum verteilen von
> binaries??).
es kann schon sein, dass ich die geschichte rund um paul davis'
entschluss ein wenig zu verkürzt wiedergebe, und damit ungewollt
missverständnisse provoziere. das ist aber natürlich ganz und gar nicht
meine absicht. im gegenteil, ich finde die differenzierte entscheidung,
wie sie von ihm damals auch sehr ausführlich dargelegt und zur
diskussion gestellt wurde, ausgesprochen interessant und bedenkenswert.
mit seinen diesbezüglichen stellungnahme hat paul davis in meinen augen
einen meilenstein gesetzt, der vermutlich nicht weniger bedeutung
besitzt, als jene unglaublich lange linux audio software liste, die er
vor zwei jahrzehnten ins netz gestellt hat und lange zeit gepflegt hat.
das war ein ganz zentraler kristallisationspunkt, der vielen von uns
erst ein mindestmaß an diesbezüglichem überblick verschafft hat.
"ardour" war natürlich eine nicht weniger beeindruckende leistung;
trotzdem halte ich auch die angesprochene kehrtwendung und seine
ernüchternd-sachkundigen ausführungen zu den realen problemen freier
software-entwicklung, wie er sie damals offen auf den tisch gelegt für,
für fast genauso bemerkenswert.
du hast jedenfalls natürlich recht: es ist wirklich nur der mittlerweile
kostenpflichtige zugang zu den binaries und die bewusste
ungleichbehandlung verschiedener betriebssysteme, für die er sich
entschieden hat, als versuch, sein praktisches überleben zu retten bzw.
auf höchst unbefriedigende einkommensverhältnise zu reagieren.
> als einer der menschen, die für die debian (und derivative) packete von
> ardour verantwortlich zeichnet, möchte ich dem herzlich widersprechen:
> einzig und alleine vorkompilierte binaries sind bei ardour von der
> paywall betroffen.
ich muss zugeben, dass mich genau dieser umstand ehrlich gestanden immer
ein wenig verwundert bis irritiert hat.
warum sollte es für debian-nutzer so schrecklich einfach und billig
sein, ein 'aptitute install ardour' einzutippen und von all weiteren
mühen erlöst zu sein, denen sich andere interessierte stellen müssen?
wirkt das nicht vielmehr so, als würde das ganz ähnlich ablaufen wie
jene unsägliche 'freunderlwirtschaft', die wir in anderen bereichen ja
auch nicht unbedingt immer schätzen? dass also für jene 'guten', die
ohnehin immer schon dazugehört haben, ganz andere gesetze gelten als für
neu dahergelaufene und abweichend orientierte...
o.k., das ist jetzt ein bisserl überspitzt! ich weiß nur zu gut, dass es
hier um den kern der GPL geht, der eben nur den zugang zu den quellen
und entsprechender modifikationen schützt, darüber hinaus aber die
"freiheit" im gebrauch und der verteilung nicht einzuschränken, sondern
vielmehr zu fördern und zu begünstigen, versucht.
aber es geht hier ja auch nicht ausschließlich nur um den buchstaben des
gesetztes, eingeritzt in die tafeln des solon -- ähh: stallman.
einen lebendigen gestaltungsversuch, wie ihn paul davis mit seiner
entscheidung intendiert hat, gilt es wohl nicht weniger zu achten!
es bleibt also die etwas unbefriedigende frage, ob ihm die debian-praxis
nicht letztlich einfach in den rücken fällt? -- was wohl kaum dein
beweggrund sein dürfte, dieses paket zu pflegen. jedenfalls sind es im
gegenständlichen fall ganz ähnliche zweifel, die mich dazu bewegt haben,
mich bewusst nach alternativen sichtweisen und standpunkten hier in der
mur.at-community umzuhören, statt einfach nur schnell einen offenen
natron-binary-mirror auf meiner homepage zu platzieren.
> da bringt mich allerdings dann doch zum kern:
> es reicht also nicht mehr, GPL software als sourcecode unentgeltlich zur
> verfügung zu stellen, man muss auch die binaries gratis anbieten?
> eine interessante lesart der GPL...free speech war wohl gestern, heute
> träumen wir nur noch von free beer.
nein, johannes, die ganze geschichte ist viel diffiziler!
die von dir angesprochne 'free speach'-dimension spielt dabei
tatsächlich eine nicht ganz unwesentliche rolle:
im konkreten fall habe ich nämlich auf meinen ersten protest im
betreffenden forum postwendend die antwort zurückgeschleudert bekommen,
dass diese entscheidung ohnehin bereits innerhalb der
natron-facebook-gruppe diskutiert worden wäre! das habe ich in meiner
ersten groben darstellung hier auf der liste bewusst nicht angesprochen,
weil es damit wohl unweigerlich in eine polemik abgedriftet wäre. für
viele von uns ist es vermutlich nicht zu fassen, dass ein wesentlicher
teil der kommunikation über freie software offenbar mittlerweile in
derart unfreiem umfeld bzw. hinter den damit verbunden mauern und hürden
erfolgt! mich jedenfalls hat das wirklich ziemlich betroffen gemacht.
[der vollständigkeit halber muss ich allerdings berichten, das eines der
fleißigen heinzelmännchen hinter der natron website innerhalb kürzester
zeit ein gateway gebastelt hat, nachdem auch noch einige andere ihre
antipahtien bzgl. facebook zum ausdruck gebracht haben, um uns auf diese
weise wenigstens indirekten zugriff auf die betreffenden beiträge zu
ermöglichen.] das sind eben so die geschichten, die sich einfach
verschoben haben, seit die GPL formulierte wurde und uns über so viele
jahre hindurch als leitfaden gedient hat.
ein anderer punkt, der in dieser diskussion nicht übersehen werden darf,
ist die frage der gleichbehandlung verschiedener betriebssysteme bzw.
der jeweils unterschiedlichen voraussetzungen auf ihnen:
unter linux ist es ja auch weiterhin kein unzumutbares hindernis,
software notfalls selbst aus den quellen heraus zu kompilieren. ich bin
zwar ziemlich froh darüber, dass das heute nicht mehr oft notwendig ist
und ich meine energie auf anderes konzentrieren kann, trotzdem sind die
voraussetzungen dafür weiterhin völlig anders gelagert als auf windows
maschinen. dort ist es wirklich immer ein ziemlicher krampf, bis man
auch nur das nötigste beisammen hat, um ein umfangreicheres programm zu
kompilieren.
wie weit soll man diesen umstand aber tatsächlich rechnung tragen?
sind die betreffenden kollegen, die noch immer auf unfreien systemen
arbeiten, nicht einfach selber schuld, wenn sie vom heiligen gral der
reinen und freien lehre ausgeschlossen werden?
diesbezüglich bin ich in letzten jahren vermutlich ein bisserl milder
und kompromissbereiter geworden. alleine als missionar der freien
botschaft will ich einfach nicht durch die lande ziehen. es ist mir viel
wichtiger, auch das zu akzeptieren, womit die leute gut umgehen können,
ihre freude haben und ein maximum an kreativer produktivität entfalten
können. bei mir selber ist das natürlich weiterhin im wesentlich an
freie (produktions-)mittel geknüpft, da ich ja häufig an dingen arbeite,
für die es ohnehin nichts fertig verfügbares zu kaufen oder in dunklen
kanälen zu kopieren gibt. da macht sich dann die ganze open source
kultur natürlich wirklich positiv bemerkbar. aber damit bin ich / sind
wir wohl eher eine exotische ausnahme, die nicht unbedingt die regeln
und maßstäbe für die breite masse vorgeben sollte.
trotzdem -- diesen ganz realen nutzen und vorteil bewusst wahrzunehmen,
statt sich ausschließlich nur am entsprechenden dogma zu orientieren,
aber etwa. bzgl. der qualität des outputs inakzeptable kompromisse
einzugehen, scheint mir ziemlich wichtig. damit verhält es sich für mich
ungefähr so, wie mit gesellschaftlich-politisches engagement, dass mir
ja auch erst dort attraktiv und vorbildlich erscheint, wo es tatsächlich
mit offenen augen und im bewusstsein der eigenen befindlichkeit
geschieht, statt einfach nur vorgegebenes lagerdenken und unerträglich
'korrekte' no-net-nana-agitation zu reproduzieren.
nachdem ich mich ja ein bisserl von der reinen computer-zentrierten
(scheuklappen-)technik zurückgezogen habe und wieder vermehrt
hilfsleitungen und gestaltungsversuche mit visuellen mitteln umzusetzen
versuche, habe ich auch wieder gelernt, die allgemeinen handwerklichen
standards und den stand der dinge im video-umfeld unabhängig vom
benutzten betriebsystem zu studieren. ja, ich arbeite sogar wieder ganz
praktisch regelmäßig mit "davinci resolve" in einer virtuellen windows
umgebung, weil die erschwinglichen alternativen unter linux dafür
gegenwärtig einfach keinen ersatz bieten (gut -- ich schreib auch
regelmäßig entsprechende pamphlete an den betreffenden hersteller, damit
die linux-version davon endlich in gleicher weise wie die mac und
windows variante zugänglich wird). jedenfalls habe ich es bis zu einem
gewissen grad zu respektieren gelernt, dass die benutzer der anderen
betriebssysteme von den vorzügen freier software in gleicher weise
profitieren sollen bzw. möglichst einfachen und adäquaten zugang dazu
finden sollen.
freie software hat mittlerweile in vielen fällen ohnehin eine reife
erreicht, dass es längst schon nur mehr als konstruktive ergänzung und
sinnvolle gegenseitige verzahnung verstanden werden kann, wenn die
entsprechenden freien mittel auch im geschlossenen umfeld genutzt
werden, aber auch kommerzielle produkte frei betriebssysteme in
gleichberechtigter weise unterstützen (ich finde es bspw. ausgesprochen
erfreulich, dass sich etwa "reaper" nun zu einem solchen schritt
entschlossen hat). für diejenigen aber, die sich tatsächlich um die
entsprechende programierarbeit kümmern, und auch irgendwie um ihr
alltägliches einkommen sorgen müssen, stellt sich diese problematik
weiterhin -- ja vielleicht sogar: zusehends -- in einer deutlich
verzwickteren weise dar. ich bin also sehr geneigt, auch ihren sorgen
und lösungsversuchen ein großes maß an respekt und nachsicht entgegen zu
bringen. der GPL ihrem sinn nach treu zu bleiben, bedeutet in diesem
zusammenhang wohl am ehesten, ein wenig darauf zu achten, dass ein
ursprünglich eingeschlagener weg bzw. eine gemeinsame hoffnung, an die
sich eine größere gruppe klammert, nicht einfach wieder irgendwann
völlig pervertiert oder verwässert wird und ins denkbar unvorbildliche
gegenteil kippt. genau dieser wiederkehr des ewig gleichen kollabierens
sollte mit diesem lizenzmodell bekanntlich bewusst entgegengewirkt werden.
trotzdem: wo zieht man die grenze?
welchen stellenwert hat es, wenn es plötzlich nicht mehr nur zum guten
ton gehört, offene entwicklung wenigstens mit brauchbaren bug reports
und user feedback zu unterstützen, sondern auch im freien lager jene
personalisierten registrationszwänge und rückmeldungsautomatismen
plötzlich zur selbstverständlichkeit werden, denen wir doch auch im
kommerziellen umfeld maximal verachtung und abneigung entgegen bringen?
wie soll man also im konkreten fall wirklich reagieren?
würdest du einen freien mirror, der auch den angesprochenen etwas weiter
gefassten kriterien des freien zugangs rechnung trägt bzw. nachdruck
verleiht, unter den gegebenen umständen für gut heißen?
immerhin geht's in dem fall ja um ein grüppchen ausgesprochen junger,
wirklich talentierter und kreativ interessierter entwickler, und nicht
nur um eine haufen in die jahre gekommener veteranen, wo ohnehin jeder
standpunkte und die verteilung aller rollen bereits unverrückbar fest
zementiert ist. ;)
jedenfalls wirklich nocheinmal: "danke" für deine stellungnahme!
alles liebe!
martin
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