[Backstage-list] «Skifahren ist kein staatstragendes Thema mehr»
J Becker
plaann at gmx.net
Sa Dez 31 15:07:00 CET 2005
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Hier wurde der Winter-Tourismus «erfunden»: Kulm in St. Moritz (Bild
pd)
30. Dezember 2005, Neue Zürcher Zeitung
«Skifahren ist kein staatstragendes Thema mehr»
Ökonom Thomas Bieger über Probleme und Chancen im Schweizer Tourismus
Das Tourismusland Schweiz hat seine einstige Führungsrolle in der
globalisierten Welt weitgehend eingebüsst. Der Konkurrenzdruck ist
härter geworden. Der Ökonom Thomas Bieger, der an der Universität
St. Gallen das Institut für öffentliche Dienstleistungen und Tourismus
leitet, sieht dennoch Wachstumschancen - allerdings begrenzte.
Professor Bieger, was erwarten Sie touristisch von der Wintersaison
2005/06?
Thomas Bieger: Ich erwarte bessere Zahlen als letztes Jahr aus mehreren
Gründen: Zum einen ist in diesem Winter der Schnee früher gekommen als
2004, weshalb in diesen Tagen in den Wintersportorten noch etliche
kurzfristige Buchungen eingegangen sein dürften. Zum anderen sind die
wirtschaftlichen Aussichten rosiger als Ende letzten Jahres. Zudem
haben wir einen guten Jahresabschluss an der Börse, und viele Firmen
zahlen relativ grosszügig Boni aus. Das alles trägt dazu bei, dass sich
die Leute wieder vermehrt etwas leisten - zum Beispiel Ferien in den
Bergen.
Der Aufschwung, den wir jetzt erleben, ist sehr relativ, wenn man
bedenkt, dass die Logiernächte in der Schweiz seit 2002 um über 7
Prozent zurückgegangen sind. Wie sehen Sie mittelfristig die Chancen
für den Schweizer Wintertourismus?
Die Perspektiven müssen differenziert beurteilt werden. Da sind zum
einen Top-Destinationen wie Zermatt, St. Moritz, Gstaad oder Samnaun,
die in den letzten Jahren Strukturen bereinigt haben mittels Fusion und
Ausbau der Bergbahnen und Investitionen in die Hotellerie getätigt
haben. Das sind Ferienorte, die mit der weltweiten Nachfrage Schritt
halten können; im Fünf-Sterne-Bereich sind wir preislich und qualitativ
international kompetitiv. Daneben gibt es die
Tagestourismus-Destinationen - ich denke an Hoch-Ybrig, die
Flumserberge oder die Jungfrauregion. Diese profitieren vom Trend zu
Ferien auf Balkonien: Es gibt zunehmend Leute, die aus finanziellen
oder Bequemlichkeitsgründen im Winter eher von zu Hause aus Ski fahren
gehen.
Und wer sind die Verlierer?
Das sind die kleinen und mittleren Destinationen in den peripheren
Gebieten. Die können nicht vom Tagestourismus profitieren, weil sie zu
weit weg sind. Gegenüber den Top-Destinationen haben sie einen
Qualitätsrückstand, den sie wegen der Kostenstrukturen in unserem Land
nicht einfach mit Preisabschlägen kompensieren können. Ausserdem haben
diese Gebiete häufig ein Lebenszyklusproblem: Viele sind in den
siebziger Jahren gross geworden. Jetzt fehlt das Geld für eine
Reinvestition und Anpassungen an die aktuellen Bedürfnisse.
Tatsache ist auch, dass nicht mehr so viel Ski gefahren wird wie früher.
Eindeutig. Wintersport war in den siebziger Jahren einfach die einzige
Wahl, wenn man im Winter Ferien machen wollte. Heute ist das eine
Möglichkeit unter vielen. Man kann auch interkontinental reisen zu
gleichen, wenn nicht zu günstigeren Preisen. Oder sich in
Freizeitbädern, Themenparks, Tennishallen und auf Golfplätzen, die
teilweise auch im Winter offen sind, vergnügen. Kommt hinzu, dass das
Interesse am Schneesport, der zeit- und kostenintensiv und erst noch
anstrengend ist, nachgelassen hat. Generell stellt man fest, dass die
einst staatstragenden Themen, zu denen auch der Skisport gehörte, in
der Multioptionsgesellschaft, die stets viele Alternativen bietet, an
Gewicht verlieren.
Stagnierende Reiseintensität
Vor fünfzig Jahren war die Schweiz eine der grossen Tourismus-Nationen
der Welt. Im Zuge der Globalisierung hat sich das massiv verändert. Wo
steht unser Land heute?
Tourismus ist auf eine relativ grosse Zahl von Arbeitskräften
angewiesen und braucht Land. Sobald ein Standort sich wirtschaftlich
stark entwickelt, werden genau diese beiden Faktoren teuer. Mit anderen
Worten: Der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz in den anderen Branchen
hat praktisch zwangsläufig dazu geführt, dass der Tourismus verdrängt
wurde. In einem industrialisierten Land kann sich der Tourismus nur
dort behaupten, wo es, wie in peripheren Regionen, keine Alternative
gibt und man ihn unter Aufzehrung von stillen Reserven weiterbetreibt.
Oder dort, wo man durch Spezialisierung und Optimierung produktiver
ist, wie zum Beispiel an den internationalen Anziehungspunkten Titlis
oder Jungfraujoch.
Und was heisst das konkret?
Ich gehe davon aus, dass die Schweiz mittelfristig ein leichtes
Wachstum im Tourismus erzielen kann. Das Potenzial ist aber begrenzt,
nicht zuletzt, weil die Reiseintensität der Bevölkerung in den
entwickelten Ländern stagniert. Falls unser Land in anderen
Wirtschaftsbranchen Wettbewerbsvorteile verlieren sollte, dann kann das
für unseren Tourismus positiv sein: Wenn der Kampf um Arbeitskräfte
nachlässt oder wenn gewisse Industriebrachen frei werden - im
Ruhrgebiet zum Beispiel sind Industriebrachen erfolgreich in
Themenparks und Museen umgewandelt worden -, so kann der Tourismus
Abschwünge in anderen Branchen oder einzelnen Regionen tendenziell
auffangen.
Neue Beherbergungsformen
In den letzten zehn Jahren sind etwa tausend Hotels vom Markt
verschwunden. Geht dieser Prozess noch weiter?
Die härteste Phase ist überstanden. Das kann man aus den Rückmeldungen
von Banken und von der Schweizer Gesellschaft für Hotelkredit
schliessen. Das heisst aber nicht, dass die Zahl der Hotels sich jetzt
stabilisiert, vielmehr wird der Strukturwandlungsprozess geordneter und
geht auch hin zu neuen Beherbergungsformen: Die Zahl der traditionellen
Hotelübernachtungen sinkt tendenziell, jene von Zweitwohnungen nimmt
zu. Mittlerweile hat jeder fünfte Schweizer Gratiszugang zu einer
Zweitwohnung. Daneben gibt es neue Beherbergungsformen wie mit
Dienstleistungen ausgestattete Wohnungen, Caravaning mit Mobilhomes,
Billighotels oder Jugendherbergen. So gesehen, geht der Strukturwandel
in der Hotellerie nicht nur von kleineren zu grösseren und von
qualitativ schlechten zu besseren Einheiten, sondern es geht um eine
eigentliche Neuorientierung bezüglich der Art der Geschäftsmodelle.
Was muss man tun, um heute erfolgreich eine Beherbergungsstätte -
welcher Art auch immer - zu führen?
Man muss sich klar sein über das Geschäftsmodell: Wo will ich Geld
verdienen? Mit der Übernachtung? Mit den Zusatzaktivitäten? Mit der
Verpflegung? Die zweite Frage lautet: Welches Gästesegment möchte ich?
Mit welchem Angebot will ich diese Gäste erreichen? Was soll geboten
werden? Wie überall in unserer Gesellschaft geht der Trend Richtung
Ausdifferenzierung, also entweder ganz top, luxuriös und teuer oder
dann wirklich billig und clean. Das Dritte ist das richtige Management.
Das Hotel lebt von der Art der Hotelführung, es braucht eine
Übereinstimmung der Werte und Ziele von Hotelmanagement und
Hoteldirektor mit dem Konzept.
Fusionen statt Kooperationen
Stark unter Druck sind auch viele Bergbahnen. Ein Drittel gilt als
nicht überlebensfähig.
Das Hauptproblem ist, dass sehr viele Bergbahnen zwar operativ schwarze
Zahlen schreiben, aber nicht in der Lage sind, genügend Ertrag zu
erwirtschaften, der es ihnen erlaubt, die notwendigen Investitionen zu
tätigen. Der Grund dafür ist, dass wir ein Überangebot haben. Heute
wird jeder fünfte Franken im Bergbahnbereich falsch investiert,
beispielsweise am falschen Standort. Der zweite Grund ist, dass die
Angebote nicht mehr den modernen Bedürfnissen entsprechen. Entweder
sind die Skigebiete zu klein, oder die Pisten sind zu schmal usw.
Sind Fusionen eine Lösung?
Sie sind ein Teil davon. Durch Schaffen grösserer Einheiten spart man
Kosten beim Management, im Betrieb, bei Unterhalt und Wartung. Wir
gehen davon aus, dass eine Bergbahn wenigstens 6 Millonen Franken
Umsatz machen sollte, um optimal zu operieren. Als Zweites sollte man
darauf achten, dass man andere Elemente der Wertschöpfungskette
integriert, wie Skivermietung und Beherbergungseinrichtungen, damit man
ganze Leistungspakete anbieten kann und damit ein Eigeninteresse
besteht, für den Standort zu werben.
Fusionen und Kooperationen sind seit längerem Schlüsselwörter im
Tourismus.
In der Vergangenheit wurde zu viel über Kooperationen gesprochen.
Kooperationen sind ausserordentlich schwierig, wenn gegenseitige
Abhängigkeiten bestehen. Und das ist ganz typisch der Fall in einem
Skigebiet, wo eine unabhängige Bergbahn und ein unabhängiges
Bergrestaurant existieren. Das Bergrestaurant muss sich davor schützen,
dass die Bergbahn den Betrieb einstellt und umgekehrt. Das führt zu
komplexen Vertragswerken. Das Resultat ist, dass heute im Tourismus
unzählige Gremien eine grosse Zahl an Sitzungen durchführen. Das ist
ein Zeichen dafür, dass die Transaktionskosten zu hoch sind. Wenn man
wirksam auftreten möchte, ohne grosse Reibungsverluste, braucht es eine
richtige Integration in Form einer Fusion.
Tourismus ohne Subventionen?
Welche Märkte sind künftig im Tourismus wesentlich für die Schweiz?
Grosse Hoffnungen werden ja auf Asien gesetzt.
Asien ist nur ein ganz kleiner Bestandteil. Die Zahl der Logiernächte
der asiatischen Gäste liegt im Moment im einstelligen Prozentbereich.
Selbst wenn diese Zahl um 50 Prozent zunimmt, sind es erst wenige
Prozente. Es kann für einzelne Unternehmen sehr wichtig sein, in diese
Märkte zu investieren, aber für die gesamte Tourismuswirtschaft der
Schweiz ist deren Bedeutung marginal. Es ist deshalb mindestens so
wichtig, dass man die bestehenden Märkte pflegt, so beispielsweise
Deutschland, auch wenn das derzeit nicht leicht ist. Auch der
Binnenmarkt muss weiterhin intensiv bearbeitet werden.
Brauchen wir die Marketingorganisation Schweiz Tourismus, über deren
Subventionierung letztes Jahr im Parlament so heftig diskutiert wurde?
Es braucht eine Imagepflege Schweiz. Das touristische Image lässt sich
immer weniger von anderen Images trennen. Es braucht deshalb eine
integrierte Standortpromotion, die die Landwirtschaft, den Tourismus
und die allgemeine Wirtschaftsförderung umfasst. Deshalb finde ich die
derzeitigen Bestrebungen zur Zusammenführung dieser verschiedenen
Funktionen auf Bundesebene sinnvoll.
Was halten Sie generell von der Subventionierung des Tourismus? Ist das
nötig?
Wenn man die Beträge zusammenzählt, die auf den Stufen Bund, Kantone
und Gemeinden an Hotels, Bergbahnen und sogar an Schneeanlagen
ausgerichtet werden, ergibt das eine stattliche Summe. Letztlich hängt
alles davon ab, was man vom Tourismus will. Der Tourismus ist häufig
auch ein Instrument der Regional- und Kulturpolitik. Es wird erwartet,
dass er dazu beiträgt, in einzelnen peripheren Regionen dieses Landes
wirtschaftliche Aktivitäten aufrechtzuerhalten und kulturelle
Einrichtungen zu beleben. Ich meine, je mehr öffentliche Ansprüche man
an den Tourismus stellt, umso stärker muss man ihn unterstützen. Der
Tourismus geht bei uns nicht unter, wenn sich der Staat zurückzieht.
Wir haben dann einfach einen anderen Tourismus, einen, der sich
vielleicht wirklich nur noch auf die Top-Zentren und auf ein paar
hochspezialisierte kleinere Destinationen beschränkt. Kulturtourismus
oder Tourismus in peripheren Regionen würde es dann im bisherigen
Ausmass nicht mehr geben.
Interview: cb.
Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
http://www.nzz.ch/2005/12/30/il/articleDFPOT.html
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