[Backstage-list] WG: backstage liste funktioniert nicht mehr? / Kreuzfahrt im Dritten Reich

Michael Zinganel zinganel at mur.at
Do Dez 29 23:19:40 CET 2005


------ Weitergeleitete Nachricht
Von: J Becker <plaann at gmx.net>
Datum: Thu, 22 Dec 2005 15:22:56 +0100
An: Michael Zinganel <zinganel at mur.at>, Peter Spillmann <psp at k3000.ch>
Betreff: backstage liste funktioniert nicht mehr? / Kreuzfahrt im Dritten
Reich

 
Frankfurter Allgemeine Zeitung Reiseblatt

Denunzianten, Bier und Wein
Ein Urlaubskonzept für die Verführung des ganzen Volks: Kreuzfahrt im
Dritten Reich / Von Rainer Schauer

In seiner Novelle "Im Krebsgang" beschrieb Günter Grass den Untergang der
"Wilhelm Gustloff", die am Abend des 30. Januar 1945 von drei russischen
Torpedos in der Ostsee versenkt wurde. In der Diskussion, die sich an der
literarischen Verarbeitung dieses Ereignisses entzündete, der Frage auch von
Schuld und Leid der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, kam nur am Rande die
Rolle der "Wilhelm Gustloff" im Gefüge der nationalsozialistischen
Freizeitindustrie zur Sprache. Bis 1939 war dieses Schiff der größte und
modernste Kreuzfahrtdampfer der Welt und dazu das Flaggschiff der
KdF-Flotte, die als "Künder und Symbol" des Nationalsozialismus in See
stach. KdF stand als Kürzel für die nationalsozialistische Gemeinschaft
"Kraft durch Freude", die im Jahre 1934 als Reiseveranstalter- und
Tourismusorganisation der Deutschen Arbeitsfront ihre Arbeit aufnahm. Die
DAF hatte den Platz der zerschlagenen Gewerkschaften und
Angestelltenverbände übernommen und sie als "Arbeiter der Faust" und
"Arbeiter der Stirn" unter den Symbolen Hakenkreuz und Zahnrad vereint.

 Für die Menschen im Dritten Reich - ob Arbeiter, Angestellte oder
Parteifunktionäre - war damals eine Kreuzfahrt an Bord eines KdF-Dampfers
ein Urlaubstraum, der auch für die kleinen Leute in Erfüllung ging.
Allerdings waren sie, entgegen den Propaganda-Parolen, immer eine Minderheit
unter den Passagieren. Von 1934 bis 1939 standen zwölf Hochseeschiffe in
KdF-Diensten: die "Dresden", die 1934 vor Norwegen auf Grund lief und durch
ein Schiff mit dem Namen "Der Deutsche" ersetzt wurde, die "Sierra Cordoba",
die "Oceana", die "Stuttgart", die "Berlin", die "Monte Olivia", die "Monte
Sarmiento", die "Columbus", die "St. Louis", die "Wilhelm Gustloff" und die
"Robert Ley", die auf den Namen des DAF-Führers getauft worden war. Nur die
beiden letztgenannten Schiffe, so Wolfhard Buchholz in seiner 1977
veröffentlichten Dissertation "Die nationalsozialistische Gemeinschaft KdF",
wurden im Auftrag der DAF gebaut und waren auch deren Eigentum. Alle anderen
Schiffe wurden von deutschen Reedereien wie der Hamburg-Amerika-Linie oder
der Norddeutschen Lloyd gechartert. In amerikanischen Quellen dagegen heißt
es, im Jahre 1935 habe "Kraft durch Freude" das Kreuzfahrtschiff "Der
Deutsche" für 42 Millionen Reichsmark von der Hamburg-Amerika-Linie gekauft.

In Friedenszeiten dampften die KdF-Kreuzer durch die Fjorde Norwegens, zur
Südküste Englands, besuchten Stockholm, die finnischen Schären und die
baltische Küste; man sah die weißen Dampfer in Lissabon, vor Madeira, den
Azoren und den Kanaren. Reiseziele waren außerdem die italienischen
Küstenstädte Genua, Neapel, Palermo, Bari und Venedig, ferner Tripolis,
Athen, Delphi und Split. Für das Ende des Jahres 1939 plante KdF angeblich
sogar eine Seereise mit zehn KdF-Dampfern nach Japan. Aber da fuhren die
weißen Schiffe schon im grauen Tarnanstrich als Truppentransporter übers
Meer oder lagen wie die "Wilhelm Gustloff" als Wohnheim für künftige
U-Boot-Fahrer in Gotenhafen vor Anker. Dort legte das Schiff Ende Januar
1945 zu seiner letzten Fahrt ab.

Unter dem Jubel der Bevölkerung war es am 5. Mai 1937 in Hamburg vom Stapel
gelaufen. Die Witwe von Hitlers Statthalter in der Schweiz taufte das Schiff
auf den Namen ihres ermordeten Mannes. Wie die "Wilhelm Gustloff" war auch
die 1938 in KdF-Diensten gestellte "Robert Ley" eine luxuriöse
Ausnahmeerscheinung in der damaligen Kreuzfahrtwelt, sieht man von den
schnellen Dampfern im Liniendienst auf der Strecke Europa-New York ab. So
bot die "Wilhelm Gustloff" ausschließlich Zwei- und Vierbettaußenkabinen,
unterschiedliche Klassen waren unbekannt; in jeder Kabine floß Kalt- und
Warmwasser, es gab Zentralheizung und Klimaanlage. Den eintausendfünfhundert
Passagieren, die von mehr als vierhundert Besatzungsmitgliedern umsorgt
wurden, standen neben den Restaurants mehrere Gesellschaftsräume,
Wintergarten, Bibliothek, Schreibzimmer und Rauchsalon zur Verfügung. Ärzte
waren an Bord, Animateure und, natürlich, die Spitzel der Partei.

 Die anderen KdF-Dampfer konnten bei weitem nicht den Komfort der beiden
Vorzeigeschiffe bieten. So wurden die Kabinen der "Oceana" teilweise mit
sechs Personen belegt. Die Spitzel registrierten den Unmut bei den
Passagieren. Auf dem Schiff "Der Deutsche" waren die Kabinen so eng, daß
sich ihre vier Bewohner nicht gleichzeitig ankleiden konnten. Zwei von ihnen
mußten jeweils auf dem Gang warten. Die "Stuttgart" gar war ein
Drei-Klassen-Schiff mit unterschiedlicher Kabinengröße und -ausstattung. In
der C-Klasse mußten die Gäste auf fließendes Wasser verzichten, auf dem
B-Deck floß es nur kalt aus den Hähnen, erst die A-Klasse-Passagiere konnten
Kalt und Warm mischen. "Obwohl die Unterkünfte auf den Schiffen oft
überbelegt waren", heißt es in der 1976 erschienenen amerikanischen
Untersuchung "The KdF Movement in Nazi Germany", "und Ehepaaren keine
gemeinsame Kabine garantiert werden konnte, wurden doch alle Anstrengungen
unternommen, den Seereisenden den Aufenthalt so komfortabel wie möglich zu
gestalten. Essen gab es im Überfluß, Fleischgerichte wurden zweimal am Tage
serviert . . . Zigaretten, Spirituosen und Bier waren steuerfrei zu kaufen,
durften jedoch nicht mit von Bord genommen werden."

Die Animation an Bord war festes Programm. Vom frühen Morgen an, wenn ein
Trompetenstoß die Passagiere weckte, bis spät in die Nacht waren die Tage
verplant - mit gemeinschaftlichen Spielen, Leibesübungen, Vorträgen,
Konzerten und den "Bayerischen Abenden". Der "Time-Life"-Korrespondent
William D. Bayles, der an einer KdF-Seereise teilnahm, wunderte sich über
"riesige Mengen von Bier und Wein", die von den deutschen Passagieren
konsumiert wurden. Erstaunt registrierte Bayles auch, welch aufregendes
Erlebnis es für "diese einfachen Menschen" an Bord war, in den dicken
Teppichen zu versinken und in den luxuriösen Gesellschaftsräumen Platz zu
nehmen. 

 Diesen Luxus konnten die Arbeiter der Faust und Stirn für relativ wenig
Geld genießen, denn KdF subventionierte alle Fahrten. Deshalb lagen die
Preise für KdF-Seereisen beträchtlich unter denen der privaten Konkurrenz.
So verlangte beispielsweise die Reederei Hamburg-Amerika-Linie für eine
dreiwöchige Seereise zu den Fjorden Norwegens 425 Reichsmark. Rechnet man
den Preis einer einwöchigen KdF-Fjord-Kreuzfahrt von 59,50 Reichsmark hoch,
dann hätte der entsprechende Preis für drei Wochen bei weniger als
zweihundert Reichsmark gelegen, die Bahnanreise nach Hamburg und volle
Verpflegung an Bord inklusive. Der Reisekonzern KdF charterte auch die
"Admiral", die von 1936 an täglich Ausflügler nach Helgoland schipperte;
1938 begann KdF zudem Flußkreuzfahrten auf der Donau anzubieten.

"Bereits 1936", schreibt Buchholz, "hatten die KdF-Seereisen das Dreifache
der Passagierzahlen aller deutschen und englischen Reedereien erreicht, die
Kreuzfahrten veranstalteten." Insgesamt liefen von 1934 bis 1939 KdF-Schiffe
zu fast siebenhundert Hochseekreuzfahrten aus, an denen achthunderttausend
Passagiere teilnahmen. Dann fuhren die Vergnügungsdampfer in den Krieg.

Text: F.A.Z., 22.12.2005, Nr. 298 / Seite R2
 
 
------------------------
J o c h e n   B e c k e r  |  Boeckhstr.45  |  D-10967 Berlin
t: +49.(0)30. 691 79 70  |  fax/t: +49.(0)1212. 542 067 138
plaann at gmx.net 
 

------ Ende der weitergeleiteten Nachricht

-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: http://lists.mur.at/pipermail/backstage-list/attachments/20051229/5269bb35/attachment.htm