[Backstage-list] Visual culture and tourism

Michael Zinganel zinganel at t0.or.at
So Apr 18 16:02:03 CEST 2004


Lübbren, Nina; Crouch, David (Hrsg.): Visual culture and tourism.
Oxford, New York: Berg Publishers 2003. ISBN 1-859-73588-6; 256 S..

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Cord Pagenstecher
E-Mail: < ->
http://www.cord-pagenstecher.de

Die Herausbildung des Tourismus im 19. Jahrhundert beruhte nicht zuletzt
auf der wachsenden Bedeutung des visuellen Konsums. Fast gleichzeitig
veranstaltete Thomas Cook die erste Pauschalreise (1841), brachte Karl
Baedeker seinen ersten eigenen Reise-führer heraus (1842) und erfanden
Daguerre (1839) und Talbot (1841) die Fotografie. Orte wurden zu
Sehenswürdigkeiten, ‚Sites’ zu ‚Sights’, als sie nicht mehr benutzt,
sondern betrachtet wurden. Aus Natur wurde ‚Landschaft’; die Alpen waren
nicht mehr unbequemes Verkehrshindernis, sondern pittoresker
Anziehungspunkt. Der Tourist unterschied sich vom Pilger dadurch, dass
er die Kirche betrachtete, ohne zu beten.
In der sich zunehmend etablierenden Tourismusforschung betonte vor allem
John Urry die enge Verbindung zwischen Tourismus und visueller
Wahrnehmung. Obwohl sein Buch über den „Tourist Gaze“ sehr einflussreich
war, wissen wir noch wenig über die Wahrnehmungsmuster der Reisenden.
Auf der empirischen Ebene bereitet der Gebrauch von Bildquellen
erhebliche Probleme; trotz einiger interessanter Ansätze fehlen noch
ausgefeilte Methoden und Techniken einer Visual History. Das mangelnde
akademische Interesse an der Bildanalyse ist noch auffälliger, wenn es
um nicht-professionelle und nicht-publizierte Fotografien wie etwa
private Urlaubsbilder geht. Die Kulturwissenschaften dagegen
interessieren sich vor allem seit dem sogenannten Iconic Turn in den
1990er Jahren stärker für das Visuelle. Mit semiotischen, ikonologischen
und anthropologischen Ansätze werden Bilder und Wahrnehmungsmuster
erforscht. Wenig Aufmerksamkeit wurde aber der Verbindung zwischen
Tourismus und visueller Kultur zuteil.
Der Tourismusgeograph David Crouch und die Kunsthistorikerin Nina
Lübbren wollen diese Lücke nun füllen. Die beiden in England tätigen
HerausgeberInnen haben 15 Beiträge vor allem aus Großbritannien, aber
auch aus Finnland, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten zusammen
getragen. GeographInnen, KunsthistorikerInnen und AnthropologInnen
analysieren anhand verschiedener Fallstudien die Wechselwirkungen
zwischen visueller Kultur und Tourismus und die Bedeutung visueller
Praktiken und Repräsentationen in touristischen Ritualen und
Erfahrungen.
In ihrer Einführung stellen die HerausgeberInnen ihre unterschiedlichen
Perspektiven als Kunsthistorikerin und Geograph bewusst nebeneinander.
Beide betonen jedoch übereinstimmend einerseits die Macht der Zeichen,
mit denen die Künstler oder die Tourismusindustrie bestimmte Images
vorstrukturieren, andererseits aber auch die komplexen Mechanismen der
individuellen touristischen Wahrnehmung. Crouch nennt dies „flirting
with visual culture rather than being merely seduced by it” (12). Die
Beiträge sind in zwei Hauptteile gegliedert: Der Abschnitt „Sites and
Images” untersucht die Images, die die touristische Erfah-rung
vorprägen, der Abschnitt „Practices and Encounters” analysiert
unterschiedliche Wege, wie mit diesen Vorgaben umgegangen wird.
Annelies Moors untersucht die Darstellung palästinensischer Frauen und
ihrer Traditionen auf palästinensischen und israelischen Ansichtskarten.
Die vermeintlich harmlose touristische Bilderwelt der Postkarten ist
tatsächlich stark politisch aufgeladen, wenngleich die jeweilige
Bedeutung je nach Zielgruppe differiert. Ähnliche Prozesse des „Framing“
findet De-borah Cherry bei kolonialen Bildern von Algerien: Spezielle
visuelle Techniken wurden genutzt, um die Immobilität und
Rückständigkeit des Orients zu zeigen. Auch andere Artikel konzentrieren
sich auf das 19. Jahrhundert; sie untersuchen etwa die optische
Sakralisierung des französischen Maler-Bauern Jean-François Millet oder
die Geschäftspraktiken örtlicher Fotostudios in verschiedenen britischen
Tourismuszielen.
Mehrere Kapitel betonen die lange andauernden Einflüsse von
bildprägenden Vorläufern auf die heutigen touristischen Images. Nina
Lübbren erkennt bei Strand- und Küstenmotiven in der Malerei um 1900
eine Mediterranisierung, einen Paradigmenwechsel von Nord zu Süd, „from
grey to sunny mode” (139). Die meisten Fotos von Machu Picchu in Peru
(nicht in Me-xico, wie auf Seite 14 geschrieben) widerspiegeln immer
noch das vom Entdecker geprägte Bild des „lost place” (164). Vor allem
die Maler haben den touristischen Blick über Jahrzehnte hinweg geprägt
und fungierten so als „drivers of the tour bus“, wie Peter Howard
schreibt (109).
Seine methodisch inspirierende quantitative Inhaltsanalyse der
Landschaftsbilder bei den jährlichen Kunstausstellungen der Londoner
Royal Academy zeichnet wechselnde Präferen-zen für verschiedene
europäische Regionen über zwei Jahrhunderte nach. Besonders stellt er
heraus, wie sich der feststehende Bildtypus des „Mediterranean Coast
View” etabliert und dann allmählich ausbreitet – vom Golf von Neapel im
19. Jahrhundert zur Costa del Sol am Ende des 20. Jahrhunderts (114). Er
beweist, wie nützlich quantitative Ansätze dann sind, wenn ein relativ
homogener und zusammenhängender Bestand visueller Quellen über einen
langen Zeitraum hinweg zur Verfügung steht.
Griselda Pollock geht einen besonders schwierigen Gegenstand an:
Holocaust-Tourismus nach Auschwitz. Sie untersucht aber nicht das
Verhalten von TouristInnen in Gedenkstätten, sondern beschränkt sich –
in einer manchmal allzu metaphorischen Sprache – auf die Analyse von
filmischen Porträts von Überlebenden, die an diesen Schreckensort
zurückkehren. Ein viel ‚leichteres’ Themas erforscht Doug Sandle: Wie
stellen sich TouristInnen selbst in ihren fotografierten
Urlaubserinnerungen als “the holiday other” (194) dar? Seine Quelle sind
die Bilder eines örtlichen Fotostudios auf der Isle of Man, das in den
1950er und 1960er Jah-ren ein inszeniertes ‚Bar’-Ambiente als
Hintergrund für lustig inszenierte Urlaubsfotos anbot. Anhand der
Schnappschüsse ihrer Eltern nähern sich Eeva Jokinen and Soile Veijola
auf fast autobiographische Weise der Analyse von „cultural landscapes“
(259). Auf verschiede-nen Bildern eines bekannten finnischen Berges
konfrontieren sie den herrschenden, männlichen und nationalistischen
Blick von oben mit dem altmodischen und abergläubischen Blick von
unten.
Zu den Verdiensten des Sammelbandes gehört sein breiter
interdisziplinärer Rahmen: Er zeigt die große Vielfalt möglicher
Forschungsfragen und Herangehensweisen an Tourismus und visuelle Kultur.
Obwohl überwiegend aus einer britischen Perspektive geschrieben, geben
die – eine Periode von mehr als zwei Jahrhunderten umfassenden –
Beiträge viele inspirierende Einsichten auf den europäischen und
außereuropäischen Tourismus und können so den hierzulande häufig auf
Deutschland eingeschränkten Blick erweitern. Auf der theoretischen Ebene
stützen sich viele Artikel auf John Urrys ‚Tourist Gaze’, ohne ihn
jedoch explizit zu diskutieren. Die unterschiedlichen, teilweise recht
persönlichen Ansätze zeichnen ein sehr lebendiges Bild; die empirische
Verifizierung der Theorien über die visuelle Kultur bleibt jedoch
schwierig. Die KunsthistorikerInnen beschränken sich meist auf die Kunst
selbst und vernachlässigen ihre Einflüsse auf den Tourismus; die
Tourismusforschung weiß zwar um die Wichtigkeit der visuellen Kultur,
verfügt aber häufig nicht über das Werkzeug zur Analyse des visuellen
Materials. Noch brauchen wir mehr empirische Studien über die komplexen
Mechanismen der Konstruktion des touristischen Blicks. Als
Quellenmaterial dafür kämen nicht nur Malerei, Tourismuswerbung oder
Reiseführer in Frage, sondern auch private Ur-laubsschnappschüsse,
Interviews oder die Ergebnisse einer teilnehmenden Beobachtung. Freilich
wird es stets leichter sein, sorgfältig inszenierte Kunstwerke oder die
zweckorientiert produzierten Bilder der professionellen Tourismuswerbung
zu analysieren als die privaten und häufig unbewussten
Wahrnehmungsmuster individueller TouristInnen.
Das Buch vermeidet zu Recht die voreilige Beantwortung von Fragen, die
noch eine weitere Debatte erfordern. Stattdessen betont es bewusst die
bestehenden theoretischen Gegensätze und methodischen Unterschiede, die
die Diskussion befruchten und neue Studien anregen können. Zu Recht ist
auch der Titel des Sammelbands gewählt: Er behandelt die visuelle Kultur
und den Tourismus, weniger aber die visuelle Kultur des Tourismus.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Matthias Middell <middell at rz.uni-leipzig.de>

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