[ausreisser-news] cfp #83: "Solidarität"

ausreißer - Die Wandzeitung ausreisser at mur.at
Do Jul 26 20:20:04 CEST 2018


/liebe leute,
/
/der neue call for papers – diemal in form einer etwas umfangreicheren 
auseinandersetzung mit den aktuellen zuständen – ist da und er fordert, 
neben der einhaltung des redaktionsschlusses am //_*8. august 2018 
*_//(text (für print max. 8000 anschläge), bild, sämtliche genres), ganz 
unmissverständlich eines:/

*SOLIDARITÄT*

Ist es wirklich soweit, dass auf einem zentralen Platz mitten in Europa 
ein enthemmter Mob ungehindert „Absaufen!“ in Richtung eines Schiffes 
mit gerade aus dem Wasser geretteter Menschen brüllt? Rührt es gar 
nicht, wenn Babys hinter Gittern gellend weinen, weil sie kurz zuvor aus 
den Armen ihrer Mütter und Väter gerissen wurden? Wird tatsächlich 
einfach zugeschaut, wie im viertreichsten Land der EU wieder 
Arbeitszeiten wie vor 100 Jahren zugelassen werden? Kümmern die Leichen 
von Ertrunkenen, mit denen die Badestrände des Kontinents übersät sind, 
niemand mehr? Und schert es keinen, wenn wieder Registrierungslisten 
gefordert und angefertigt werden, für Roma und Sinti, Jüdinnen und 
Juden, Homosexuelle und Menschen mit Behinderung? Wie lange schon werden 
die Lager, die Todeszäune, die Schießbefehle nicht nur ignoriert, 
sondern befürwortet?

Nur das Fehlen jeglicher Empathie macht so etwas möglich und es gründet 
auf das Fehlen jeglicher Solidarität.

Dieses gänzliche Fehlen ist das Ziel, seine Erreichung nicht mehr weit. 
Längst wird die soziale Frage wieder durch die nationale ersetzt. Sie 
machen es zu einer Frage der Herkunft und meinen eine Frage des 
Besitzes. So werden tatsächliche Grenzen verschleiert – jene zwischen 
Opfern und Täter*innen, zwischen jenen, die Leid erfahren und denen, die 
es verantworten. So bricht man Solidarität am effektivsten.

Denn das ist es, worauf jede Diktatur, historisch wie aktuell, aufbaut: 
die absolute Verneinung und Verhinderung von Solidarität. Zuerst durch 
die Zerschlagung demokratischer Strukturen bei gleichzeitig konsequenter 
Umkehr ihres Wertesystems, denn Solidarität ist die wichtigste Stütze 
der Demokratie und die größte Gefahr für die Diktatur – ein Miteinander 
akzeptiert keine Allmacht. Solidarität begründet Empathie und umgekehrt. 
Wer wissen will, was es bedeutet, wenn Menschen diese Empathie abhanden 
kommt, braucht nur Mauthausen zu besuchen. Oder Auschwitz. Oder 
Treblinka. Oder. Es ist das Ende von Menschlichkeit, von Menschsein. 
Denn an letzter Stelle dieses Umbaus steht der radikalste Schritt: Die 
Entmenschlichung all derer, die nicht in diese autoritäre Erzählung 
passen bzw. die, aktiv oder angesichts ihrer Situation, ein Verhalten, 
eine Haltung, einfordern, die diesem System der ausschließlich 
materiellen Profitmaximierung diametral entgegensteht: Mitgefühl. 
Hilfsbereitschaft. Humanität. All das stellt eine absolute Widerlegung 
der systematischen Diktatur des Profits dar, muss ergo eliminiert 
werden. Das bedeutet Vernichtung. Die Bereitschaft dafür wird durch 
konsequente Entmenschlichung geschaffen. Nur so lässt sich Empathie 
verhindern – durch die menschliche Entwertung des Gegenübers.

An diesem Wendepunkt befinden wir uns.

Aber wer zum Teufel ist dieses suggerierte „wir“? Die Besitzenden, die 
Freien, weil sie zufällig mit dem richtigen Reisepass an der Nabelschnur 
aus der Vagina gepresst wurden? Wenn nur mehr das Recht des Stärkeren 
gilt, haben am Ende alle verloren. Worauf hofft jemand, der das 
befürwortet? Dass er oder sie dieses Ende ohnehin nicht mehr erlebt? 
Dass es sie/ihn eben doch nicht trifft? Weil dieses „wir“ davon ausgeht, 
dass die Zielfernrohre „nur“ gegen „die anderen“ gerichtet sind? Das 
„wir“ einer Diktatur definiert sich nicht über ein gemeinsames 
Miteinander, sondern einzig über den Ausschluss. Dieser manifestiert 
sich in der Entwertung, Entmenschlichung der Ausgeschlossenen. Darin 
liegt die ganze Gewalt. So wird Vernichtung sagbar, denkbar, machbar.
Wie mit der Frage: „Oder sollen wir es lassen?“ auf der Politikseite 
einer der wichtigsten deutschsprachigen Printmedien über einem Foto 
eines Bootes voller Menschen in Rettungswesten. Einmal mehr sind es 
nicht zuletzt, sondern zuerst Medien und Kulturinstitutionen, die diese 
Erzählung der Vernichtung weitertragen, verschärfen – oder brechen.

Wenn die /ZEIT /die Frage „Oder sollen wir es lassen?“ stellt, zeigt 
sich, wie weit der Wechsel der Koordinaten schon vollzogen ist. Die 
Barbarei ist im sichtbaren Herzen des öffentlichen Systems angekommen, 
jenes Systems, das Werte definiert. Auch jene, die dem Mob in der 
Dresdner Innenstadt fehlen, wenn er „Absaufen!“ skandiert. Und die die 
österreichische Bundesregierung nie hatte, wenn sie Folterlager, 
unmenschliche Arbeitszeiten und Nazi-Parolen vertritt.

Ja, es stimmt. Demokratie bedeutet, dass alle Meinungen, Positionen, 
Diskussionen zulässig sind und ausgesprochen werden dürfen. Das muss 
Demokratie aushalten und aus dem Diskurs gestärkt hervorgehen. Aber im 
Gegensatz zu all den Grenzen, die gerade zwischen Menschen und Ländern 
gezogen werden, werden die wichtigsten und notwendigsten Grenzen 
zunichte gemacht: jene des Menschseins.
Diese Grenzen sind unverhandelbar: die der Humanität, der Menschenwürde 
und -rechte, die der Mitmenschlichkeit und – der Solidarität. So wie es 
keine Meinungen zu Naturgesetzen geben kann, stehen diese Grundlagen 
menschlichen Zusammenlebens nicht zur Debatte. Niemand käme auf die 
Idee, ernsthaft in Frage zu stellen, ob die Erde rund ist oder nicht 
vielleicht doch eine Scheibe sein könnte, oder ob die 
Gravitationsgesetze noch gelten. Es doch zu tun, würde zwar nicht von 
überbordender Intelligenz zeugen, aber zumindest keinen moralischen 
Schaden verursachen bzw. im besten Fall durch die wiederholte 
Beweisführung des Gegenteils einen bildungspolitischen Auftrag erfüllen. 
Wer jedoch Humanität in Frage stellt, betreibt keine 
Grundsatzdiskussion. Er betreibt die Enthumanisierung unserer 
Gesellschaft und damit ihren Untergang. (Wolfgang Luef, /SZ-Magazin/)

Wenn Medien darin keinen Skandal mehr sehen und statt Titelseiten kaum 
mehr eine Randspalte dafür erübrigen, sind diese Grenzen bereits 
überschritten. Wenn ruhig zugesehen wird, wie der radikale rechte 
Medienmogul Steve Bannon offen ankündigt, die kommenden Europawahlen zu 
manipulieren, er damit auf keinen nennenswerten Widerstand stößt, 
sondern im Gegenteil der österreichische FPÖ-Delegationsleiter Vilimsky 
im Europaparlament „punktuelle Kooperationen nicht ausschließt“, 
offenbart sich das Ausmaß des politischen Desasters.
Der Weg dorthin wurde und wird bereitet, wenn kritische Publikationen 
und ihre Verfasser*innen Ziel von politischen Attacken werden, 
Öffentlich-Rechtlichkeit in Frage gestellt wird und nicht-kommerzielle 
Medien finanziell und strukturell unter Druck gesetzt werden.

Angesichts dieser Lage geht es so entschieden wie nie zuvor darum, ob 
sich Medien und Kulturinstitutionen in den Dienst dieser faschistischen 
Wende (Finton O'Toole, /Irish Times/) stellen – oder dagegen. Der 
tatsächliche Zustand der Demokratie wird darin erkennbar werden, ob ein 
solches Dagegen noch möglich ist. Oder ob es systematisch verhindert wird.
Daran kann die Tragfähigkeit demokratischer Strukturen gemessen werden. 
In ganz Europa und bis in die kleinste seiner Städte. Denn nicht zuletzt 
an den lokalen Entscheidungen zeigt sich, wieviel Demokratie tatsächlich 
wert ist. An den Entscheidungen von Akteur*innen vor Ort, von 
Kurator*innen, Beamt*innen, Aktivist*innen, Lokalpolitiker*innen, aber 
genauso von Kulturschaffenden, Journalist*innen, Wissenschafter*innen 
und Künstler*innen, sowie von allen Bürger*innen – denn diese 
Entscheidung können sie treffen. Können wir treffen. Denn das ist es, 
was dieses „wir“ ausmacht: Wir haben die Wahl – aber wir haben sie nur 
zusammen mit jenen, die sie gerade nicht haben. Weil sie nicht zu den 
Besitzenden, den Freien, den Mächtigen zählen, weil ihnen die 
Wahlfreiheit genommen wurde oder sie sie nie hatten, weil sie zufällig 
mit dem falschen Reisepass an der Nabelschnur aus der Vagina gepresst 
wurden.

Sich mit allen Mitteln gegen autoritäre Manöver jeder Ausprägung zu 
stellen, ist nicht nur moralische Pflicht, sondern schlichtweg bitterste 
Notwendigkeit.
Das gilt für Politiker*innen aller Ebenen, die demokratisch gewählt 
wurden, um das Leben aller zu verbessern und dafür eine Verantwortung 
tragen, die weit über ihre Funktionsperiode hinausreicht.
Das gilt für Medien, die sich nicht in den Dienst zerstörerischer 
Propaganda zu stellen haben, sondern mit allen Mitteln dagegen arbeiten 
müssen. Daraus beziehen sie ihre einzige Legitimation.
Das gilt für jede und jeden Einzelnen, in jedem persönlichen Gespräch, 
in jeder Entscheidung, in jeder Handlung. Klar, deutlich, 
unmissverständlich. Und jede*r Einzelne trägt die Verantwortung, 
dasselbe von Politik und Medien einzufordern. Nicht nur am Wahltag alle 
vier oder fünf Jahre, nicht nur beim kurzen Blick in die 
Facebook-Timeline oder auf den privaten Kontoauszug. Demokratie und 
Menschlichkeit sind Lebensgrundlagen, für alle. Dafür gilt es zu 
kämpfen, jeden verdammten Tag.

Eines steht fest: Gewinnen lässt sich all das nur solidarisch. 
Miteinander. Und radikal empathisch.



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