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Do Sep 25 09:29:17 CEST 2003
Der sechste Versuch endet tödlich
Belgische Polizisten haben 1998 die Asylbewerberin Semira Adamu
während der Abschiebung im Flugzeug erstickt - jetzt stehen sie vor
Gericht
Von Jörg Reckmann
Alles an diesem Todesfall, bei dem lange fraglich war, ob er je vor
Gericht verhandelt würde, ist ganz einfach. Die letzten Stunden im
Leben des Opfers sind fast Minute für Minute festgehalten. Die Täter
sind bekannt. Auf einem offiziellen Polizeivideo ist festgehalten,
wie diese drei kräftigen Männer eine junge, an Händen und Füßen
gefesselte Frau festhalten, ihr den Kopf herunterdrücken, sich mit
aller Kraft auf ihren Rücken stützen, um sie in dieser drangvollen
Lage zu halten. Der 20- jährigen Semira Adamu wird von einem der drei
auch noch ein Kissen auf das Gesicht gepresst. "Kissentechnik" heißt
das in den Dienstanweisungen. So sitzt sie da, wie zusammengeklappt,
den Oberkörper auf Kniehöhe heruntergepresst. Die Männer über ihr
geraten ins Schwitzen, drücken offenbar stärker. Im Todeskampf
entleert sich Semira Adamu. Ein Amtsarzt wird Jahre später im
Prozess zu bedenken geben, dass die Männer spätestens zu diesem
Zeitpunkt hätten erkennen müssen, was sie anrichteten. Als der
Geruch störend wird, machen die drei Witze, ein anderer spritzt
Kölnisch Wasser.
Sie lockern ihren Griff nicht, noch lange nicht. Fünf oder sechs
Minuten wird die nun regungslose Frau weiter in dieser Position
gehalten. Sie ist ins Koma gefallen. Das hätten sie schon öfter
gehabt, dass diese Leute auch noch Fäkalien als letztes Mittel gegen
die Abschiebung einsetzen, wird einer der Angeklagten dem Richter
erläutern.
Auf den Tag genau fünf Jahre ist es her, dass die Asyl suchende
Semira Adamu beim sechsten Versuch, sie abzuschieben, auf einem
Flugzeugsitz zu Tode gedrückt wird. Die belgische Justiz hat sich
schwer getan, die an der Tat beteiligten Polizeibeamten vor Gericht
zu stellen. Das mag an den Versuchen der Verteidigung gelegen haben,
den Prozess zu verhindern, das mag an den
Menschenrechtsorganisationen gelegen haben, die das ganze
Abschiebungssystem auf der Anklagebank sehen wollten und nicht nur
ein paar Handlanger. Das mag aber auch an der Abwehr eines in sich
geschlossenen, männlich dominierten Sicherheitsapparates liegen, an
einer Kaste, die sich nicht gern selbst in der Rolle des Täters
sieht. In dieses Bild von der Männergesellschaft passt das scheinbar
Abgebrühte und die schulterrollend demonstrierte Überlegenheit, die
auf dem Tatvideo zu erdulden ist. Dazu gehört auch jener Angeklagte,
der vor Gericht in Tränen ausbricht, als er schildert, dass der
Bürgermeister von Louvain seine Versetzung in diese Stadt nach dem
Skandal mit den Worten ablehnte: Er wolle keine Kriminellen. Der
Bürgermeister aber war auch Innenminister. Von ihm erhielt der Beamte
die Weisung, Abschiebungen mit Härte durchzusetzen.
Die Risse im Männerbund machen den Untergang einer Welt spürbar,
einer Welt wie aus einer vergangenen Zeit, die unbemerkt überlebt
hat und nun vor der 46. Kammer des Brüsseler Strafgerichtshofes ins
Licht tritt. Die bombastische Architektur des Justizpalastes macht
die Menschen klein, im Sitzungssaal 1 dreht die Riege der Anwälte,
meist stehend, den Richtern zugewandt, dem Publikum den Rücken zu.
Schwarze Talare, weiße Beffchen, mit hellem Pelzbesatz versehene
Schals: eine Bruderschaft im Zwiegespräch, streitig natürlich,
obwohl alle wissen, dass die Strafen milde sein werden. Bewährung für
den Haupttäter, der schon bei einem früheren Abschiebefall durch
Brutalität auffiel, Strafverschonung für die beiden anderen, und
Freispruch für die zwei Polizeioffiziere, die den Einsatz vor Ort
leiteten, so lautet die Forderung des Staatsanwaltes. Solche Milde
macht diesen einfachen Fall wirklich kompliziert.
Dabei scheint es doch viel leichter, sich an das Einfache zu halten.
Semira Adamu kam mit gefälschten Papieren nach Belgien, das ist für
Asylsuchende nicht gut. Und sie kam, weil sie in ihrem Heimatland
Nigeria der Zwangsverheiratung mit einem älteren Mann entgehen
wollte, dessen vierte Frau sie hätte werden sollen. Asylrechtlich ein
einfacher Fall, nämlich gar keiner. Sexuelle Selbstbestimmung, freie
Wahl des Ehepartners, selbst körperliche Unversehrtheit in den
Beziehungen der Geschlechter, als Asylgrund ist das nicht vorgesehen.
Also wandert die junge Frau von der Passkontrolle direkt in den
Abschiebeknast. Ein unwirtlicher Ort, der allen Schrecken verdient,
den sein Name ausstrahlt. Hoffnungslos überbelegt, manchmal vier
Menschen in einer Ein-Mann-Zelle mit offenem Abort. Die Spülung kann
nur von außen bedient werden - wenn die Beamten denn kommen. Semira
Adamu hat in ihrer Zelle oft gesungen, wie sie es immer tat, wenn
Freude oder Schmerz sie dazu trieben. Einer der Täter fand, sie habe
eine schöne Stimme. Im Flugzeug kurz vor ihrem Tod sang sie auch.
Das aber sollte niemand hören. Keine Aufmerksamkeit, so lautete der
Befehl von oben.
Denn oben, ganz oben, war man unruhig. Die Zustände in den
überfüllten Abschiebezentren wurden öffentlich und immer lauter
kritisiert. Die Abschiebungen liefen nicht, wie sie sollten, vor
allem zu langsam und mit zu viel Aufsehen. Von ganz oben wurde der
Druck weitergereicht nach ganz unten. "Koste es, was es wolle", die
Abschiebungen mussten gelingen, sagt einer der angeklagten Beamten
vor Gericht. Gefragt, was das bedeute, schweigt der Mann.
Capitaine Vandenbroek, der die Aktion gegen Semira Adamu leitete an
diesem Septembertag, sagt vor Gericht aus, der Minister habe
angeordnet, innerhalb von zwei Wochen mindestens 23 Menschen
erfolgreich abzuschieben. Ein Schock sollte erzeugt werden, um den
Handlungswillen des Staates zu demonstrieren und um klar zu machen,
dass Widerstand gegen die Abschiebungen zwecklos sei. Jeden Tag
wurden die Erfolgszahlen in der Polizeikaserne ausgehängt. Waren zu
viel Abschiebungen gescheitert, setzte es Rügen der Vorgesetzten.
Semira Adamu hatte zu diesem Zeitpunkt bereits fünf
Abschiebeversuche vereitelt. Es war zu Schlägereien in den Flugzeugen
gekommen, weil die Passagiere sich auf die Seite der jungen Frau
stellten. Die Piloten wurden unruhig, es kam zu Festnahmen wegen
Widerstands gegen die Staatsgewalt. Immer wieder mussten die Beamten
die Aktionen abbrechen. Beim fünften Abschiebeversuch waren es acht
Mann, die unverrichteter Dinge mit ihrem schmächtigen Opfer wieder
abziehen mussten. Semira Amadu versaute die Bilanz.
All dies spielte sich zudem immer mehr in aller Öffentlichkeit ab.
Die junge Frau hatte Kontakt zu einer Gruppe von Abschiebegegnern
gefunden, die sie zu einer Symbolfigur machten. Der Geistliche, der
sich in der Abschiebehaft um die Asylbewerber kümmerte, sagte, diese
Gruppe habe Adamu in die harte Haltung hineingetrieben. Auch das
Innenministerium wollte ein Exempel statuieren. Capitaine
Vandenbroek: "Uns wurde aus dem Ministerbüro zu verstehen gegeben,
die Abschiebung müsse nun gelingen. Sonst könnte der Eindruck
entstehen, die Abschiebungsgegner könnten die ganze Ausländerpolitik
aushebeln." Außerdem, so der Offizier, war ihm klar, dass nach der
langen Abschiebehaft irgendwann der Zeitpunkt kommen musste, an dem
Semira Adamu Haftverschonung erhalten würde.
Das ist die Lage, als am Morgen des 22. September 1998 zwei Beamte
die Zelle von Semira Adamu betreten. Zwei bei Abschiebungen
erfahrene Beamte, zwei Freiwillige für diesen Job. Der eine seit
Jahren dabei, der andere mit Unterbrechungen, weil er einmal einen
Abschiebehäftling in den Magen geschlagen hat. Nach diesem Vorfall
wird er kurze Zeit nicht mehr bei Abschiebungen eingesetzt, darf
dann wieder ran, auf eigenen Wunsch. "Ich liebe Afrika, so konnte man
reisen, und es gab Spesen vor Ort", sagt er vor Gericht und fügt
hinzu: "Ich mag farbige Menschen, ich kann gut mit denen." Die
beiden Männer binden Semira die Arme auf den Rücken, fesseln die
Füße, so dass sie nur mit Mühe gehen kann. Sie wehrt sich nicht,
verhält sich völlig passiv. Der Weg zum Wagen, die Gangway hinauf ins
Flugzeug: Die ganze Aktion wird auf Video festgehalten. Bei
schwierigen Fällen eine Routineangelegenheit. Sozusagen zum
Selbstschutz der Beamten, man will Belege haben.
An diesem Tag aber geht irgendetwas schief. Über dreißig Minuten kann
man den Leidensweg von Semira Adamu per Video verfolgen. Alles ist
da in seiner ganzen Entsetzlichkeit - nur das Wichtigste nicht.
Semira Adamu soll geschrieen haben, als die ersten Passagiere das
Flugzeug betreten, und deshalb reagierten die Beamten sofort, so
sagen sie. Genau diese Stelle aber fehlt. Ein technisches Versagen,
die Batterie wurde schwächer, sie habe nicht alles aufgenommen, weil
außerdem die Kassette zur Neige ging, sagt der filmende Beamte vor
Gericht. Auf dem Video fehlen acht Minuten, die entscheidenden acht
Minuten.
Als der Film wieder einsetzt, sieht man die Beamten wie sie Adamu auf
dem Sitz halten, aber da ist sie, wie der Amtsarzt glaubt, schon im
Koma. "Lass sie atmen, du lässt sie doch atmen, oder", sagt der eine.
"Ja, ja, aber wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen", sagt der
andere. So jedenfalls ist es einer Mitschrift der Dialoge zu
entnehmen, die bereits kurz nach der Tat in die Zeitungen gelangte.
Sechsmal in vier Minuten wird in die Kamera versichert, dass die
junge Frau noch atme, dass man ihr diese Möglichkeit lasse. Ein
Routinedialog, sagt einer der Angeklagten vor Gericht, damit man die
Kontrolle nicht verliert.
Nach dem Tod von Semira Adamu werden in Belgien die Abschiebungen für
kurze Zeit eingestellt. Der Innenminister tritt zurück, die
Ausführungsbestimmungen werden geändert. Die belgischen Bischöfe,
Politiker und Parteien publizieren Betroffenheit, das
Europaparlament befasst sich mit der Angelegenheit. Fünf Monate
später stirbt der sudanesische Abschiebehäftling Amir Ageeb nach
Gewaltanwendung an Bord einer Lufthansamaschine in Frankfurt.
Daraufhin werden die Abschiebungen auch in Deutschland ausgesetzt.
Inzwischen wird längst wieder abgeschoben, aus Belgien, aus
Deutschland, aus Europa, und vor dem Strafgerichtshof in Brüssel
stehen fünf Beamte, die von sich sagen, sie hätten nur Befehle
befolgt.
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