+comunity+ unterueberwachung

f, ft at mur.at
Di Mai 14 13:55:40 CEST 2002


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ich hab ja mangels permanenten wohnsitzes in graz keine ahnung, wie das
thema ueberwachung des oeffentlichen raums virulenz bekommen hat; aber
anbei eine sache aus hamburg, bei der ich lesend bedauerte, nicht dabei
gewesen zu sein.
schoene gruesse
f,

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"It's important for us to explain to our nation that life is important.
It's not only life of babies, but it's life of children living in, you
know, the dark dungeons of the Internet." 
George W. Bush
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Hamburg, den 06.05.2002

Übung in gestischem Radiohören

Hamburger  Radiosender verwandelten Hauptbahnhof  in den Schauplatz
eines Radioballetts

Am Sonntag, dem 5. Mai 2002, fand das wohl unheimlichste Ereignis der
letzten Jahre am Hamburger Hauptbahnhof statt: über 300 Menschen
führten, verteilt über die  Bahnsteige und das angeschlossene
Einkaufszentrum "Wandelhalle", gleichzeitig wie ferngesteuert dieselben
Gesten aus. Das "Ligna-Radioballett" hatte die Hörerinnen und Hörer des
nicht-kommerziellen Lokalsenders Freies Sender Kombinat dazu eingeladen,
sich mit Radiogeräten ausgestattet über das gesamte Gebäude zu
zerstreuen und - den Anweisungen aus dem Radio folgend - massenhaft 
Gesten an den Bahnhof zurückzubringen, die durch die Privatisierung aus
diesem verdrängt wurden.  
Am intensivsten beforscht wurde bei dieser Übung in öffentlicher
Irritation die Grauzone zwischen "erlaubten" und "unerlaubten" Gesten -
wie z. B. zwischen der Geste, die Hand zu reichen und der Geste, die
Hand aufzuhalten. Der kleine Unterschied in der Haltung der Hand ist in
kontrollierten Räumen wie dem Hauptbahnhof von großer Bedeutung,
entscheidet er doch darüber, ob man in ihnen verweilen darf oder
ausgeschlossen wird. Für die 49 Minuten der Performance verwandelte sich
der Bahnhof in einen gespenstischen, unheimlichen Raum, der sich dem von
der Hausordnung Verdrängten öffnete. Über die zerstreute TeilnehmerInnen
des Balletts erhielt  Einzug, was einen Ort zu einem Öffentlichen Raum
macht: das Unerwartete. 
Die künsterische Intervention verblieb somit nicht auf der symbolischen
Ebene, sondern veränderte real die Situation am Bahnhof. Am Ende des
Balletts brachen die TeilnehmerInnen und Zuschauer spontan in einen
mehrmünitigen Applaus aus, der die bis dahin unerwartet zurückhaltenden
Ordnungskräfte für einen kurzen Moment in Alarmbereitschaft versetzte. 

Ähnlich rigoros wie Tag für Tag gegen unerwünschte Personen und
verdrängte Gesten am Bahnhof war die Deutsche Bahn AG zunächst auch
gegen das Radioballett vorgegangen. Im Vorwege strengte sie einen Antrag
auf einstweilige Verfügung gegen die Aktion an. Das Landgericht Hamburg
jedoch wies den Antrag ab und stellte fest, daß die Bahn und ihre
Tochterunternehmen trotz der Privatisierung der Bahnhöfe
grundrechtlichen Bindungen unterliegen. Unter Bezugnahme auf die
verfassungsrechtlich verbürgte Kunst- und Meinungsfreiheit erkannte es
das Recht des FSK an, das Radioballett durchzuführen. Das hanseatische
Oberlandesgericht schloß sich dieser Entscheidung an verwarf eine
Beschwerde der Deutschen Bahn AG gegen den Beschluß der ersten Instanz.
Beiden Gerichten konnte die Bahn zudem nicht glaubhaft machen, daß es
sich beim Radioballett um eine Versammlung handeln würde, die den
normalen Bahnverkehr behinderte. Stattdessen erkannten sie, worin das
eigentliche Anliegen der Aktion lag: in der Zerstreuung.   

Die Durchsetzung des Radioballetts werten die Initiatoren, die
Radiokunstgruppe Ligna, als einen politischen Erfolg: ein Ort, der
bundesweit zum Vorbild für die Privatisierung öffentlicher Räume
geworden ist und aus dem seit Jahren systematisch bestimmte
Verhaltensweisen ausgegrenzt werden, wurde für einen kurzen Moment
geöffnet, indem die verdrängten Gesten ihn heimsuchten. Diese
Sternstunde dekonstruktiver Politik wird zwar den Zug in Richtung
Privatisierung nicht aufhalten, aber der Versuch, die Notbremse zu
ziehen, wurde - auch als Geste -  gemacht. 

Das Radioballett war Teil der Veranstaltungsreihe Formierte
Öffentlichkeit -Zertreute Öffentlichkeit, die am 4. und 5. Mai 2002 in
der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle stattfand.

Für Rückfragen stehen zur Verfügung: 
Ole Frahm, 040/342 872
Torsten Michaelsen, 040/439 2885
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