[Backstage-list] Literaturempfehlung: WerkstattGeschichte 13, 36 (2004), 1

Michael Zinganel zinganel at t0.or.at
So Sep 19 16:55:55 CEST 2004


WERKSTATTGESCHICHTE, HEFT 36
13. Jg., August 2004
ISBN 3-89861-378-X


Thema »Tourismus«


Andreas Mai                                             S. 7
Touristische Räume im 19. Jahrhundert. Zur Entstehung und Ausbreitung
von Sommerfrischen

Christian Noack                                         S. 24
Von »wilden« und anderen Touristen. Zur Geschichte des Massentourismus
in der UdSSR

Wiebke Kolbe                                         S. 42
Viel versprechende Strandwelten. Ein Werkstattbericht über den Umgang
mit Bildquellen am Beispiel früher Seebäderplakate


Werkstatt

Nils Römer                                             S. 57
Die touristische Konstruktion jüdischer Vergangenheiten in Worms

Hanno Loewy                                         S. 73
Projektive Auserwähltheitskonkurrenz: »Tragische« Bilder und
Selbstbilder der Täter

Bericht                                             S. 87
Gender in Modern Jewish History:
Rethinking Jewish Women’s and Gender History. 1. Internationaler
Workshop, 20. bis 22. Oktober 2003 in Hamburg
(Miriam Rürup)

Filmkritik                                             S. 92
»Gewinne die Menge!« Warum der Hollywood-Antikfilm mit Gladiator
(noch) nicht wieder auferstanden ist
(Mischa Meier)

Expokritik                                                  S. 103
»Hier geblieben« Zuwanderung und Integration in Niedersachsen 1945 bis
Heute (Stefan Mörchen)




Editorial

Tourismus ist heute die zweitgrößte Wirtschaftsbranche weltweit.
Urlaubsreisen haben sich zu einem festen und zentralen Element der
Lebensgestaltung in Industriegesellschaften und deren kulturellen
Selbstverständnisses entwickelt.  Umso erstaunlicher ist es, dass die
historische Erforschung des modernen Massenreisens, anders als die
epochenübergreifende historische Reiseforschung, noch in den Anfängen
steckt. In Deutschland ist dies mehr als etwa in Frankreich und den
angloamerikanischen Ländern der Fall.  Doch ist das hiesige
Forschungsinteresse in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen: Vor
allem jüngere Historiker und Historikerinnen entdecken
Tourismusgeschichte als interessantes Forschungsfeld.  Im Gegensatz zu
den “großen” und “wichtigen” Themen Arbeit, soziale Ungleichheit,
Wirtschaft oder Politik wird einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung
mit Urlaubsreisen dabei aber noch immer eine besondere Legitimation
abverlangt,  die indes nicht schwer fallen sollte. Denn die
Tourismusgeschichte erschließt Prozesse historischen Wandels der Moderne
durch neue Fragestellungen und Perspektiven und erlaubt eine
ertragreiche Erforschung von gesellschaftlicher Modernisierung, der
Vergemeinschaftung sozialer Gruppen, kulturellem Wertewandel und
ökonomischen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert.
Eine mögliche Zugangsweise zum Forschungsfeld ist, die Akteure,
diskursiven Aushandlungsprozesse und kulturellen Bedeutungen bei der
Entstehung und Entwicklung touristischer Ziele zu betrachten. Wie
entstanden touristische Orte; wie wurden sie erfolgreich als solche
aufrecht erhalten – oder auch nicht? Wer errang wann die
Definitionsmacht darüber, was ein lohnenswertes touristisches Ziel oder
eine sinnvolle touristische Praxis ist – lokal, regional und
überregional? Wie beeinflussten etwa Wissenschaft, Politik oder Ökonomie
die Entwicklung des Tourismusdiskurses und der touristischen Praktiken?
In welchem Verhältnis standen Angebot und Nachfrage zueinander? Bei
diesen Fragestellungen bestehen Affinitäten zur Wissenschafts-, Diskurs-
und Wirtschaftsgeschichte, während Studien, die sich stärker auf die
Wahrnehmung und Aneignung touristischer Ziele durch die Reisenden und
auf deren Praktiken konzentrieren, von der Erfahrungs- und
Körpergeschichte inspiriert sind.
Ein historisch noch wenig erforschtes Feld sind die Wechselwirkungen
zwischen Reisenden/Tourismus und Einheimischen/touristischen Zielen. Wie
sich Orte, Regionen, Länder durch ihre touristische Erschließung und den
Einfluss des (Massen)-Tourismus veränderten, welche Chancen, welche
Gefahren der Tourismus für die Bevölkerung touristischer Gebiete barg,
inwiefern diese die Entwicklung selbst mit beeinflusste und wie sich
ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen dabei änderten, ist noch kaum
untersucht. Auch bei diesen Fragen werden gesellschafts- und
wirtschaftsgeschichtliche Aspekte angesprochen, aber etwa auch Umwelt-
und Verkehrs-, Diskurs- und Wahrnehmungsgeschichte. Insgesamt ist das
junge, expandierende Forschungsfeld Tourismusgeschichte stark
interdisziplinär geprägt und vor allem von der Kulturgeografie, der
Kultur- und Raumsoziologie, der Kulturanthropologie und der
Tourismusökonomie inspiriert.

Andreas Mai untersucht am Beispiel der im späten 19. und frühen 20.
Jahrhundert weit verbreiteten Reiseform Sommerfrische, wie touristische
Räume und Praktiken entstanden und fortgeschrieben wurden.
Sozialgeschichtlich fragt er nach lokalen Entwicklungen und
Aushandlungsprozessen; diskursgeschichtlich nach der Popularisierung
touristischer Orte und Praktiken durch Wissenschaft und Medien. Mai
zeigt, dass die Geschichte der Sommerfrische mit dem Ansatz des
“touristischen Blicks” nicht vollständig zu erfassen ist, und plädiert
für eine Erweiterung der historischen Perspektive bei der Erforschung
touristischer Ziele und Praktiken.
Christian Noack geht in seinem Beitrag dem bislang kaum beachteten
Phänomen des innersowjetischen Individualtourismus im Kontext des
entstehenden Massentourismus der 1960er und 1970er Jahre nach. Am
Beispiel des Schwarzmeerbadeortes Anapa unternimmt er das schwierige
Unterfangen, aus offiziellen sowjetischen Quellen und zeitgenössischen
soziologischen Untersuchungen die Reisebedingungen, Motive und
Erfahrungen “wilder Touristen” jenseits des organisierten
Sozialtourismus zu erschließen. Er vergleicht die individuellen mit den
organisierten Tourismusformen und fragt nach der gesellschaftlichen
Bedeutung des trotz zahlreicher Probleme mit unzureichender
Infrastruktur weit verbreiteten  innersowjetischen individuellen
Strandtourismus, der dem Individualtourismus westlicher Prägung
erstaunlich ähnlich war.
Wiebke Kolbe knüpft in ihrem Werkstattbericht an die derzeitige
Diskussion um die historische Bildforschung an und zeigt, wie sich
Werbeplakate des Seebädertourismus im frühen 20. Jahrhundert für die
Tourismusgeschichte nutzen lassen. Sie argumentiert, dass Werbung und
Tourismus eine hohe Affinität aufweisen, denn beide arbeiten mit
kollektiven Träumen und Utopien. Gerade Bildwerbung ist deshalb eine so
gewinnbringende Quelle tourismusgeschichtlicher Forschungen, weil sie in
besonderem Maße auf die mit dem Urlaub verbundenen Vorstellungswelten
verweist.

Im Mittelteil verbindet Nils Römer in seinem Beitrag über jüdischen
Tourismus in Worms ein tourismushistorisches Thema mit Fragestellungen
zu “lieux de mémoire”. Er zeigt, wie in einer Stadt ohne jüdische
Gemeinde durch Einflüsse lokaler Funktionäre, örtlicher und
internationaler Presse sowie vornehmlich jüdischer Touristen und
ehemaliger Einwohner ein jüdischer Erinnerungsort geschaffen wurde. Der
Friedhof und die wieder errichtete Synagoge dienen dabei bis heute den
Bemühungen, die Stadt als Reiseziel attraktiv zu gestalten.
Hanno Loewy beschäftigt sich mit den Selbstbildern von NS-Tätern und
stellt seinen Interpretationsansatz vor, der das Narrativ des Tragischen
als den gemeinsamen Nenner dieser Selbstbilder identifiziert. Er
diskutiert das dafür wesentliche Konzept der “schuldlosen Schuld” anhand
historischer Dokumente, fiktiver Erzählungen und aktueller
geschichtswissenschaftlicher Debatten.
Der Kategorie “gender” in der modernen jüdischen Geschichtsschreibung
widmete sich eine Tagung am Institut für die Geschichte der deutschen
Juden in Hamburg, von der Miriam Rürup berichtet. Die Autorin spricht
sich für eine differenziertere Analyse der geschlechtsspezifischen und
religiös/ethnischen Zuschreibungen aus.
Der Hollywood-Sandalenfilm feiert seit dem großen Erfolg von Gladiator
im Jahr 2000 überraschend Konjunktur. Mischa Meier fragt nach den
Ursachen für diesen unerwarteten Erfolg und zeigt, dass Gladiator
modernen Blockbustern tatsächlich viel näher steht als dem klassischen
Antikfilm.

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WerkstattGeschichte. Essen: Klartext Verlag. ISBN 3-89861-378-X; ISSN
0942-704-X

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