+comunity+ über zäune...

Martin Schitter ms at mur.at
Mo Jun 13 01:13:37 CEST 2016


liebe kollegen auf den mur.at-flößen!

manchmal stolpert man über betrübliche entwicklungen, die einem ziemlich 
zu denken geben und einen regnerischen tag noch weiter verdunkeln. so 
ist es mir heute ergangen, nachdem ich in der nacht bemerken musste, 
dass man seit neuestem binaries der software "natron" (http://natron.fr) 
plötzlich nur mehr nach vorheriger anmeldung bzw. registrierung 
downloaden kann. :(

ich kann gut verstehen, wenn das vielen von euch nichteinmal einer 
ernsthaften bemerkung wert erscheinen dürfte, immerhin handelt es sich 
dabei um GPL lizensierten code, der auch weiterhin prinzipiell allen 
offen steht. ich halte es trotzdem für alarmierendes signal im sinne der 
aushöhlung entsprechender errungenschaften, dass einem zu denken geben 
sollte.

ich beschreibe es hier aber natürlich auch, weil mich all die neu 
errichteten zäune und ausgrenzungsbestrebungen im mur.at-umfeld 
regelmäßig wieder betrüben, es aber vermutlich nicht viel sinn macht, 
wenn ich mich dazu zu wort melde, weil man es in diesem fall ja ohnehin 
alleine schon mit bezug auf meine person abtun und für nichtig zu 
erklären pflegt. vielleicht ist also dieser seltsame kleine anlass, zu 
dem wir alle ein bisschen mehr distanz besitzen, eher geeignet, 
grundsätzliche fragen der "netzkultur" und der damit verbundenen 
sozialen entwicklungen anzusprechen und das problem einer möglichst 
freien zugänglichkeit gleichnishaft zu studieren.

natron ist wirklich eine ganz außergewöhnliche software!
innerhalb von kürzester zeit haben hier ein paar talentierte pariser 
programmierer ein anwendung geschaffen, die im freien software umfeld 
ihres gleichen sucht. es ist im augenblick vielleicht die einzige 
größere frei linux-software, die sich tatsächlich an jenem qualitativen 
level orientiert, der heute im professionellen umfeld gefordert wird 
(bspw. durchgängig 32bit float pro farbkanal, statt den mittlerweile 
völlig unzureichenden 8-bit einschränkungen etc.). natürlich gibt's auch 
unter liunux eine ganze menge einfacher freier videobarbeitungstools, 
aber mit denen verhält es sich ungefähr so, wie mit microsoft od. libre 
office, um nicht zu sagen: "wordpad", und den handwerklichen ansprüchen 
im anspruchsvollen druck- und grafikgewerbe. für simple youtube-clips 
und das schnelle zusammenschneiden irgendwelcher urlaubserinnerungen am 
handy reichen derartige spielzeuglösungen zwar, nicht aber für 
künstlerische aktivitäten, die man ruhigen gewissens auch noch im kino 
zeigen könnte. im hinblick auf derartige ernstzunehmende 
"produktionsmittel" schaut es leider im freien software-umfeld ganz und 
gar nicht rosig aus.

dabei täuscht der erste eindruck. man würde vermuten, dass es derartiges 
für linux einfach nicht gibt. aber ganz im gegenteil, mit dem niedergang 
von SGI haben linux workstations ziemlich durchgehend die enstprechenden 
aufgaben im high-end-produktionsumfeld übernommen. das betrifft nicht 
nur die bekannten render-farmen, sondern durchaus ganz klassische 
gestaltungs- und studio-workstations. die entsprechenden kommerziellen 
lösungen rangieren allerdings in ein einer preisklasse, dass man sie als 
normalsterblicher linuxbenutzer nichteinmal vom hören-sagen her kennt. 
trotzdem sind es programme wie "mistika" (http://www.sgo.es/mistika), 
autodesk "flame" (http://www.autodesk.de/products/flame-family), 
"baselight" (http://www.filmlight.ltd.uk/products/baselight), "nuke" 
(https://www.thefoundry.co.uk/products/nuke) u.ä. auf denen fast alle 
ernsthaften produktionen auf linux maschinen abgewickelt werden. die 
verbreiteteren und bekannten lösungen auf mac und windows, wie "adobe 
premiere", "final cut x" oder "avid media composer", reichen an die 
genannten produkte bei weitem nicht heran. mittendrinnen gibt's dann 
auch noch so eigenwillige erscheinungen wie "davinci resolve" 
(https://www.blackmagicdesign.com/at/products/davinciresolve), das zwar 
für windows und macintosh mittlerweile sogar gratis unter volk gestreut 
wird, in der linux-ausgabe, wie sie im professionellem umfeld gewöhnlich 
zum einsatz kommt, aber weiterhin mit mind. $30.000 zu buche schlägt.

die kluft zwiswchen den wirklich leistungsfähigen lösungen und dem, 
womit wir uns im freien und idealistischen alltag herumschalagen müssen, 
ist also mittlerweile gerade im linux-umfeld wirklich gewaltig. natron, 
dass gewissermasen als klon von "nuke" -- einem sehr leitungsfähigen 
node based compositor -- zu verstehen ist, hat hier wirklich völlig neue 
dimensionen eröffnet. seit etwa einem jahr ist zwar auch nuke in einer 
sgn. non-commercial edition 
(https://www.thefoundry.co.uk/products/non-commercial) auf allen 
plattformen gratis verfügbar, die ich allen interessierten kollegen nur 
ans herz legen kann, weil sie eine erstaunlich großzügige und auch 
praktisch brauchbare lösung für das kreative schaffen darstellt, aber 
eben nur als closed source produkt mit spürbaren künstlichen 
einschränkungen. natron dagegen hat wirklich frischen wind ins geschehen 
gebracht und eine beeindruckende alternative dazu geschaffen. in 
viellerlei hinsicht ist es fast ein "pure data" -- 20 jahre später bzw. 
unter entsprechend veränderten medialen rahmen- und produktionsbedingungen.

das den betreffenden entwicklern, bei all ihrem spürbarem elan, nun 
plötzlich doch die luft ausgegangen ist und sie ihrem unmut über die 
unbefriedigenden perspektiven in dieser weise ausdruck verliehen haben, 
ist wirklich bedauerlich. es ist natürlich nicht das erste mal, dass 
ganz zentrale figuren der freien software szene zu solchen mitteln 
greifen. paul davis, der autor von "ardour" (https://ardour.org) und 
langjähriges zentralgestirn der linux audio bemühungen, hat sich vor 
zwei jahren zu ähnlich radikalen schritten entschlossen. er hat damals 
sogar den zugang zu binaries seines GPL lizensierten programms 
kostenpflichtig gemacht. nicht ganz so einschneidend, aber doch 
deutlich, hat sich auch dan dennedy erst kürzlich vom öffentlichen 
entwicklungsgeschehen losgesagt und sich in eine kommerzielle 
beratungsfirma zurückgezogen. ihm verdanken wir mit MLT 
(https://www.mltframework.org) und den videoschnittlösungen "kino" und 
"shotcut" (https://www.shotcut.org) jene vorarbeiten bzw. basis, auf die 
sich heute fast alle gängigen einfachen videobearbeitungswerkzeuge unter 
linux stützen. es ist also gar nicht so sehr nur ein einzelfall, der uns 
hier zu denken geben sollte, sondern vielmehr eine größere serie von 
ähnlich gelagerten individuellen kehrtwendungen, die aber angesichts der 
dabei konkret betroffenen, größte zweifel an der realistischen 
vertretbarkeit freier und selbstbestimmter open source 
software-entwicklung aufkommen lässt. man fragt sich also: ist der 
traum, der uns recht lange beflügelt hat, nur wirklich ausgeträumt und 
vorbei? passt er so gar nicht mehr in gegenwärtige zeit?

dankenswerter weise haben die natron core entwickler im laufe des 
heutigen tages ihre beweggründe und sorgen recht umfassend und offen in 
ihrem forum dargelegt. unter anderem haben sie dabei auch eingestanden, 
dass sie lizensrechtlich nichts gegen einen mirror einzuwenden hätten, 
der die binaries in zukunft an anderer stelle ohne registierungshürden 
redistributiert. ich bin mir nicht ganz sicher, ob mur.at eine derartige 
initiative ergreifen sollte? es geht ja schließlich nicht darum, den 
betreffenden entwicklern unnötig in den rücken zu fallen oder ein 
sinnloses käftemessen zu provozieren, sonder vielmehr darum, den 
stellenwert von freier zugänglichkeit und möglichst akzeptablen privacy 
richtlinien das nötige gehör zu verschaffen. wenn es uns also gelingen 
könnte, das ganze mit einem begleitenden readme zu versehen, um dieser 
grundsätzliche solidarität aber auch identifikaktion mit den 
vielfälltigen zu schützenden werten freier software ausdruck zu 
verleihen, würde ich es schon für einen recht erfreulichen versuch halten.

immerhin geht es in dieser sache einmal wirklich um "netzkultur" und ein 
ziemlich bedeutsames beispiel, wo sich die zugänglichkeit zu 
künstlerische produktionsmitteln und gesellschaftlichen 
rahmenbedingungen und gestaltungsspielräume im netz einmal ein klein 
wenig engagierter durchspielen lässt.

mich würde es wirklich freuen, eure meinung zu dieser sache zu hören -- 
auch wenn es vielleicht nicht unbedingt jeden gleich unmittelbar 
berühren sollt bzw. sich auf den ersten blick in etwas abgehobenen 
dimensionen zu bewegen scheint. aber genau so etwas scheint mir im 
mur.at-umfeld manchmal durchaus angebrach -- mehr jedefalls, als 
ausschließlich nur die bürokratische leistungsfähigkeit unseres betriebs 
mit neuen herausforderungen zu versorgen, und eben auch schritt für 
schritt auch hier neue zäune einzuziehen, die wir alle im laufe der zeit 
so widerspruchslos hinzunehmen gelernt haben.

liebe grüße!
martin



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